»Der der römischen Liturgie eigene Gesang«
Augustinus berichtet in seinen Confessiones , wie er von der Macht der Musik überwältigt und emotional angesprochen wurde: Quantum flevi in hymnis et canticis tuis suave sonantis ecclesiae tuae vocibus commotus acriter! Voces illae influebant auribus meis et eliquabatur veritas in cor meum, et exaestuabat inde affectus pietatis et currebant lacrimae, et bene mihi erat cum eis (»Wie habe ich geweint bei deinen Hymnen und Gesängen, tief bewegt von dem Wohllaut der Stimmen deiner Kirche. Jene Stimmen, sie fluteten in mein Ohr, und durch sie wurde die Wahrheit in mein Herz eingeflößt und fromme Gefühle stiegen in ihm auf, die Tränen flossen und ich fühlte mich wohl in ihnen«; Augustinus: Confessiones IX,6). Gleichzeitig schildert er die Angst vor der Autonomie dieser Macht gegenüber dem Text, im Prinzip das Dilemma jeder Kirchenmusik bis heute: Tamen cum mihi accidit, ut me amplius cantus quam res, quae canitur, moveat, poenaliter me paccare confiteor, et tunc mallem non audire cantantem (»Jedoch, wenn es mir widerfährt, dass mich mehr der Gesang als der Inhalt, der gesungen wird, bewegt, so gestehe ich, dass ich sträflicherweise sündige und wollte dann lieber den Sänger nicht hören«; Augustinus: Confessiones X,33).
Papst Pius X. formuliert in seinem Motu proprio Tra le sollecitudini von 1903 in Bezug auf die inzwischen anerkannten Forschungen der Benediktiner von Solesmes: La musica sacra deve per conseguenza possedere nel grado migliore le qualità che sono proprie della liturgia, e precisamente la santità e la bontà delle forme, onde sorge spontaneo l’altro suo carattere, che è l’universalità. [...] Queste qualità si riscontrano in grado sommo nel canto gregoriano, che è per conseguenza il canto proprio della Chiesa Romana, il solo canto ch’essa ha ereditato dagli antichi padri, che ha custodito gelosamente lungo i secoli nei suoi codici liturgici, che come suo direttamente propone ai fedeli, che in alcune parti della liturgia esclusivamente prescrive e che gli studi più recenti hanno sì felicemente restituito alla sua integrità e purezza (»Die Kirchenmusik muss also die besonderen Eigenschaften der Liturgie besitzen, vor allem die Heiligkeit und Güte der Form; daraus erwächst von selbst ein weiteres Merkmal, die Allgemeinheit. Diese Eigenschaften finden sich im höchsten Grade im Gregorianischen Choral. Daher ist dieser der der römischen Kirche eigene Gesang. Ihn allein hat sie von den Vätern übernommen, ihn hat sie mit größter Sorgfalt durch die Jahrhunderte eifersüchtig in ihren liturgischen Büchern gehütet. Sie bietet ihn als den ihrigen unmittelbar den Gläubigen dar, sie schreibt ihn allein in einigen Teilen der Liturgie vor. Neueste Forschungen haben diesen Gesang in seiner früheren Unversehrtheit und Reinheit so glücklich wiederhergestellt«; Pius X.: Motu proprio, 22. 11. 1903).
Eine Erweiterung dieses Begriffs von Kirchenmusik findet sich in den Erklärungen des II. Vaticanums: Es ist nicht mehr von der »römischen Kirche«, sondern von der »römischen Liturgie« die Rede und der Choral gilt nicht mehr als die alleinige Kirchenmusik, nimmt aber eine ausgezeichnete Stellung ein: Ecclesia cantum gregorianum agnoscit ut liturgiae romanae proprium: qui ideo in actionibus liturgicis, ceteris paribus, principem locum obtineat. Alia genera Musicae sacrae, praesertim vero polyphonia, in celebrandis divinis Officiis minime excluduntur, dummodo spiritui actionis liturgicae respondeant (»Die Kirche betrachtet den Gregorianischen Choral als den der römischen Liturgie eigenen Gesang; demgemäß soll er in ihren liturgischen Handlungen, wenn im übrigen die gleichen Voraussetzungen gegeben sind, den ersten Platz einnehmen. Andere Arten der Kirchenmusik, besonders die Mehrstimmigkeit, werden für die Feier der Liturgie keineswegs ausgeschlossen, wenn sie dem Geist der Liturgie entsprechen«; II. Vaticanum: Sacrosanctum Concilium, § 116, 1963).
Zuletzt erneuert und bekräftigt wurde diese Stellung des Chorals durch Papst Benedikt XVI. in seinem Motu proprio Sacramentum caritatis von 2007: … neque neglegatur copia ipsis fidelibus facienda ut notiores in lingua Latina preces ac pariter quarundam liturgiae partium in cantu Gregoriano cantus cognoscant. […] ut aptum detur cantui Gregoriano pondus, veluti cantui liturgiae Romanae proprio (»Man sollte nicht die Möglichkeit außer Acht lassen, dass auch die Gläubigen angeleitet werden, die allgemeinsten Gebete in Latein zu kennen und gewisse Teile der Liturgie im gregorianischen Stil zu singen. … dass der gregorianische Choral angemessen zur Geltung gebracht wird, da dies der eigentliche Gesang der römischen Liturgie ist«; Benedikt XVI.: Sacramentum Caritatis, 2007).
Der Choral ist für die europäische Musikgeschichte von so zentraler Bedeutung, weil er
- das erstes greifbare, weil schriftlich fixierte, musikalische Repertoire und Zeugnis einer musikalischen Kultur der europäischen Musikgeschichte und
- die älteste musikalische Schriftform in Gestalt der Neumen darstellt und
- das musiktheoretische Denken und
- die Entwicklung der über usuelle Praktiken hinausgehenden Mehrstimmigkeit als Kennzeichen europäischer Musik initiiert.
In der gesamten musikgeschichtlichen Entwicklung der europäischen Musik bleibt der Choral damit präsent und wirksam und vieles lässt sich nur mit seinem Verständnis begreifen.
Quellentexte
Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis, 2007 <http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/apost_exhortations/documents/hf_ben-xvi_exh_20070222_sacramentum-caritatis_ge.html>
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Hünermann, Peter (Hrsg.), Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Freiburg 2004.
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Meyer, Hans Berhard, „Pius X., Motu proprio Tra le sollecitudini 1903“ in: Rudolf Pacik (Hrsg.), Dokumente zur Kirchenmusik unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Sprachgebietes , Regensburg 1981, S. 23–34.
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Pius X., „Motu proprio Tra le sollecitudini 1903“ in: ASS , 1903/1904, S. 329–339.
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Literatur
Brou, Louis, „Liturgie ’mozarabe’ ou liturgie ’hispanique’?“ in: Ephemrides liturgicae 63, 1949, S. 66–70.
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Göschl, Johannes Berchmans, „Zwischen Theorie und Praxis: Gedanken zum Gregorianischen Choral als Lehrdisziplin in Geschichte und Gegenwart“ in: BzG 29, 2000, S. 101–105.
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Kolhaas, Emmanuela, „Dialog oder Rückzug ins Ghetto? Gregorianische Semiologie und Musikwissenschaft - einige Anmerkungen“ in: BzG 30, 2001, S. 43–56.
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Gevaert, Auguste, La mélopée antique dans le chant de l’église latine, Ghent 1895.
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Morent, Stefan, „\frqqIl canto proprio della chiesa romana\flqq. Zum Spannungsverhältnis von Musik und Kirche in katholischer Perspektive“ in: Hans-Peter Grosshans und Malte Dominik Krüger (Hrsg.), In der Gegenwart Gottes. Beiträge zur Theologie des Gottesdienstes , Frankfurt 2009, S. 227–243.
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Vivell, Cölestin, „Direkte Entwicklung des römischen Kirchengesangs aus der vorchristlichen Musik“ in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 24, 1911, S. 2–54.
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Grundlagen christlicher Liturgie
Die Kantillation in der jüdischen Liturgie stellt den rituellen gesungenen Vortrag der Tora nach speziellen Zeichen (ta-amim) im masoretischen Text der hebräischen Bibel dar. Mit den Zeichen sind musikalische Motive verbunden: niggun oder neginot (Hebräisch), trop (Jiddisch; man beachte die Nähe zum Terminus tropus). Hierbei existieren zwei Systeme, eines für die 21 Prosabücher der Bibel und eines für die drei poetischen Bücher der Psalmen, Sprüche und des Buches Job. Nach jüdischer Vorstellung ist die Tora eine schriftliche Offenbarung, die auch im korrekten Schrifttext überliefert werden muss. Da dieser Text als Konsonantentext allerdings per se defizitär ist, muss als notwendige Ergänzung die Performanz des Textes mit Vokalisation und Aussprache hinzukommen, die als mündliche Tradition verstanden wird. Deshalb bleibt die mündliche Realisierung auch flexibel und offen für regionale Varianten verschiedener Traditionen, sowohl zeitlich wie geographisch/religiös, wie etwa der Aschkenasim , Sepharden oder der Jemeniten , was eine konkrete Vergleichbarkeit jüdischer Musikpraxis zur Zeit der Entstehung der christlichen liturgischen Gesänge unmöglich macht.
Die einzigen bisher bekannten in lesbarer Notation überlieferten hebräischen Gesänge bilden die von Johannes Obadiah im 12. Jh. notierten hebräischen Piyyutim und Kantillationen biblischer Verse. Die Fragmente (GB-Cu T-S K5.41 <http://cudl.lib.cam.ac.uk/view/MS-TS-K-00005-00041/1> und US-NYjts E.N. Adler Genizah Collection 4096b) wurden von dem zum Judentum konvertierten, aus Süditalien stammenden Mönch Johannes de Oppido zu Beginn des 12. Jh. in hebräischen Buchstaben und mit beneventanischen Neumen auf geritzten Linien mit hebräischen Schlüsselbuchstaben notiert. Die Eigenart besteht hierbei darin, dass die gesamte Musikaufzeichnung mit der hebräischen Schrift von rechts nach links zu lesen ist, die Neumenzeichen wie Clivis und Pes also entsprechend gespiegelt erscheinen. Ob die aufgezeichneten Melodien dem Gregorianischen Choral entlehnt sind oder auf zeitgenössische jüdische Vortragsweisen zurückgehen, ist in der Forschung bisher umstritten, ebenso wie die Interpretation der Schlüsselbuchstaben und damit die modale Einordnung der Melodien.
Zu den ältesten Gesängen, die dieses nicht näher greifbare jüdische Erbe erweiterten, gehören offenbar Lieder oder hymnenähnliche Texte des Neuen Testaments:
Joh 1,1–18: Johannes-Prolog: Im Anfang war das Wort …
Phil 2,5–11(Paulus-Brief an die Philipper): Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein
Tit 3,4–7: Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes ...
Apk 5,9f; 19,1-10: Und sie sangen ein neues Lied ...; Danach hörte ich etwas wie eine große Stimme einer großen Schar im Himmel ...
Eph 5,14; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht ...
Kol 1, 12–20: Dankt dem Vater mit Freude …
Zu den ältesten Formen zählen auch die Hymnen des frühen Christentums, die mit den Hymnen des Ambrosius von Mailand (Bischof von Mailand 374–397) ab dem 4. Jahrhundert nachweisbar sind. Im Gegensatz zur übrigen Ausgestaltung der Liturgie, die später im Repertoire des Chorals greifbar wird, handelt es sich hierbei um eine strophische Dichtung, deren Verse entweder der antiken Metrik oder der mittelalterlichen Rhythmik entsprechen.
Quellentexte und Editionen
Johannes de Oppido:
Adler 1965, S. 40, 44; Golb 2004, Appendix.
Adler, Israel, „Les chants synagogaux notés au XIIe siècle (ca 1103-1150) par Abdias, le prosélyte normand“ in: Revue de Musicologie 51, 1965, S. 19–51.
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Golb, Norman, „The autograph memoirs of Obadiah the Proselyte of Oppido Lucano and the Epistle of Barukh B, Isaac of Aleppo, together with an appendix containing the music of Obadiah the Proselyte as deciphered by the late Prof. Royal B. MacDonald with the editorial assistance of Michael Alan Anderson“ in: Convegno internazionale di Studi: Giovanni – Obadiah da Oppido: proselito, viaggiatore e musicista dell’età normanna, Oppido Lucano (Basilicata), 28-30 marzo 2004 .
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———, „Obadiah the Proselyte Scribe of a unique twelth-century Hebrew manusscript containing lombardic neumes“ in: Journal of Religion 45, 1965, S. 153–156.
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———, „The music of Obadiah the Proselyte and his conversion“ in: Journal of Jewish Studies 18, 1967, S. 43–63.
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Einflüsse auf die Entstehung des Chorals
Als Beispiel für den altspanischen Choral kann das Antiphonar E-L (Léon, Biblioteca Catedral), Ms. 8, 2. Hälfte 10. Jahrhundert, in nordspanischen Neumen aus dem Besitz des Abtes Ikila dienen. Es überliefert eine eigene lokale Choralfassung vor der durch die Kirchenreform Papst Gregor VII. (1077) und den Vertrag von Burgos (1080) erzwungenen Übernahme des fränkisch-römischen Chorals. Da diese Fassung allerdings vorher nie auf Linien geschrieben wurde, ist sie nur in adiastematischen, Neumen überliefert und damit leider nur in ihren relativen melodischen Konturen begrenzt rekonstruierbar, ihr genauer Verlauf und damit auch die Vergleichbarkeit zu anderen Choralfassungen aber für immer verloren. Auf f. 198v befindet sich ein Ausschnitt aus dem Offizium zu Christi Himmelfahrt, mit dem Ende der Terz und dem Beginn der Vesper mit der Rubrik Officium In Die Ascensionis Domini Ad Vesperam. Der Einleitungsgesang der Vesper, der hier als Sono (von sonus) bezeichnet wird, gehört zu den musikalisch reichsten Gesängen dieses Repertoires, vergleichbar etwa einem römischen Messalleluia mit zwei Versen, wobei das Melisma allerdings auf dem Vokal e vorgetragen wird. Am Rand ist die Textquelle (Psalm 63,33) eingetragen: In ps LXIII Alleluia Regna terre / cantate deo alleluia / Psallite domino psallite deo nostro alleluia / qui ascendit super celos celorum ad orientem/ ecce dabit vocem suam vocem virtutis sue alleluia.
Die ältesten Handschriften für den ambrosianischen Choral bilden eine Reihe von Antiphonaren aus dem 12. Jahrhundert:
- I-Rvat lat. 12932
- I-Md (Mailand, Biblioteca e Archivio del Capitolo metropolitano), II.F.2.2 (um 1200)
- GB-Lbl Add. Ms. 34209 <http://www.archive.org/stream/palographiemus1896gaja#page/n212/mode/1up> (12. Jahrhundert)
- US-CAh Ms lat. 388 <http://pds.lib.harvard.edu/pds/view/3503565?id=3503565> (um 1150)
Handschriften
E-L Ms. 8 <http://bvpb.mcu.es/es/catalogo_imagenes/grupo.cmd?path=26408>
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I-Md II.F.2.2.
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I-Rvat lat. 12932.
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Faksimilia
Zapke, Susanna (Hrsg.), Hispania Vetus. Music-liturgical manuscripts from Visigothic origins to the franco-roman transition (9th-12th centuries), Bilbao 2007.
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Literatur
Agustoni, Luigi, „Ein Vergleich zwischen dem Gregorianischen und dem Ambrosianischen Choral - einige Aspekte“ in: Stefan Klöckner (Hrsg.), Cantando praedicare. Festschrift Godehard Joppich zum 60. Geburtstag (BzG), Regensburg 1992, S. 13–28.
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Matani, Sandra, „Heilige Schrift und Ekphonesis: Wie der Text die Musik formt“ in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 45, 2004, S. 149–163.
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Bailey, Terence, The Ambrosian Alleluias, London 1983.
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Kelly, Thomas Forrest, The Beneventan Chant, Cambridge 1980.
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Die Karolinger
Überliefert sind Zeugnisse für die Übersendung von Vorlagen der römischen Liturgie ins fränkische Reich. Bereits Papst Paul I. (757–767) spricht in einem Brief an Pippin von einem »antiphonale et responsale«, das er dem König übersandt habe. Papst Hadrian I. (772–795) schickt 786 auf Ersuchen Karls des Großen ein Sakramentar, das das authentische Sakramentar Gregors des und der Papstkirche (St. Johannes im Lateran ) wiedergeben sollte (sogenanntes Hadrianum oder »Gregorianum-Hadrianum«). Dieses wird von Alkuin und später von Benedikt von Aniane für die fränkische Kirche erweitert und adaptiert und ist als älteste Abschrift in einer Handschrift des 9. Jahrhunderts erhalten (Cambrai um 812, F-CA [Médiathèque Municipale] Cod. 164). Die Ordnung für die Liturgie der Papstmesse ist in den Ordines romani niedergelegt, deren Ordo I vom Ende des 7. Jahrhunderts die Fassung zur Zeit Gregors des Großen enthält. Rom galt im frühen Mittelalter generell als ein Ort der authentischen Überlieferung und nahm deshalb eine Vorbildfunktion ein. Dies galt auch ganz konkret im materiellen Sinn: Einhart berichtet in seiner Karlsvita, Karl der Große habe beim Bau der Palastkapelle in Aachen Säulen und Marmor aus Rom und Ravenna herbeischaffen lassen, um so ein kleines Stück von Rom auch in Aachen zu besitzen und gleichzeitig damit seinen Anspruch zu untermauern, Nachfolger der römischen Kaiser zu sein.
Im Kontext dieser Bemühungen, das römische Vorbild zu adaptieren, ist auch die Entstehung der Legende um Papst Gregor den Großen (Papst 590–604) als Urheber der Choralmelodien zu verorten. Vorläufer dieses Topos finden sich bereits beim langobardischen Gelehrten Paulus Diaconus (720/730 – um 799) am Hof Karls des Großen, der in seiner Vita beatissimi Gregorii papae urbis Romae beschreibt, wie Gregor die Ezechiel-Homilien vom Hl. Geist in Gestalt einer Taube empfängt. Johannes Diaconus (825–880/882) berichtet 100 Jahre später in seiner von Papst Johannes VIII. (872–882) 873 in Auftrag gegebenen und 876 fertig gestellten Vita Gregorii Magni , dieser habe ein Antiphonar zusammengestellt. Dies wird in späteren Darstellungen kombiniert zum bekannten Bild von der Taube, die Gregor den Choral ins Ohr eingibt. Damit sind Parallelen zum Evangelisten Johannes hergestellt, der neben seinem Symboltier, dem Adler, auf manchen Darstellungen auch die Taube als zusätzliches Symbol der göttlichen Geistinspiration erhält.
Zahlreiche bildliche Zeugnisse stellen Gregor mit der Taube dar: In der prachtvollen Darstellung im Sakramentar-Fragment Karls des Kahlen (F-Pn lat. 1141 <http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b53019391x>, Metz um 870) ist Gregor mit der Taube und zwei Schreibern dargestellt, wovon einer den Schleier, der Gregor abtrennt, etwas lüftet.
Eine ganz ähnliche Darstellung mit nur einem Schreiber findet sich in einer Trierer Handschrift mit den Briefen Papst Gregors des Großen aus dem 10. Jahrhundert (Stadtbibliothek Trier [D-TRs], Codex 171).
In dieser Tradition stehend ist der Moment der musikalischen Inspiration besonders sinnfällig in einer der Eingangsminiaturen zum sogenannten Codex Hartker aus St. Gallen dargestellt (CH-SGs 390, p. 13): Links der als Zeichen seiner Auctoritas und Heiligkeit größer dargestellte Hl. Papst Gregor mit Nimbus und der Taube auf der Schulter, rechts der kleiner dargestellte Schreiber, der als Zeuge der Inspiration in den durch ein Tuch abgegrenzten Raum des Numinosen hineinragt und die Melodien in St. Galler Neumen (und man beachte: ohne Text!) mit einem Griffel auf einer Wachstafel notiert.
Andere Darstellungen, wie der elfenbeinerne Vorderdeckel zum Einband eines verloren gegangenen Sakramentars aus dem franko-sächsischen Raum um 875, zeigen, wie der Hl. Gregor die ersten Worte des Mess-Kanons Vere dignum niederschreibt (Kunsthistorisches Museum Wien, Kunstkammer, Inv. Nr. 8399). Ein Elfenbeindiptychon, vermutlich aus dem 3. Drittel des 10. Jahrhunderts (Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, DI 58, Nr. 2+; 1945 bis auf geringe Reste verbrannt), folgt in seinen kleinen dargestellten Szenen der Vita des Johannes Diaconus, mit dem Unterricht in der angeblich von Gregor gegründeten schola cantorum mit personifzierter Musica und der Züchtigung der Schüler mit einer Geisel durch Gregor. Die Inschriften »ROMA« und »S(AN)C(TU)S MARTINUS EP(ISCOPU)S« verweisen auf Rom und vermutlich auf das Kloster des hl. Martin bei St. Peter als Vorbilder ehrwürdiger liturgischer Traditionen. Beda Venerabilis berichtet in seiner 731 vollendeten Historia ecclesiastica , dass Johannes, Abt des St. Martinus-Klosters und Erzkantor von St. Peter in Rom, von Benedict Biscop (628–672), dem ersten Abt der Klöster Wearmouth und Jarrow , nach Britannien eingeladen wurde, um dort das römische Gesangsrepertoire zu lehren. Auf der einen Tafel des Diptychons übergibt ein durch seine Größe hervorgehobener Kleriker, vielleicht der Abt von St. Martin oder Gregor der Große selbst, eine Buchrolle an einen Kleriker, während im unteren Teil die Vorbereitung des Pergaments und ein Schreiber bei der Kopierarbeit zu sehen sind. Auf der anderen Tafel holt ein Kleriker mit einer Buchrolle in der Hand einen Codex aus einem Bibliotheksschrank heraus oder stellt ihn dort zurück. Beides soll offenbar programmatisch die Authentizität der vermittelten Liturgie in Text und Musik über Gregor den Großen versichern. Joseph Smits van Waesberghe interpretiert dementsprechend die beiden Tafeln so, dass auf der »römischen« Tafel Gregor der Große dargestellt ist, der die durch einen Rotulus repräsentierte Tradition des römischen Liturgiegesangs an den auf der anderen Tafel dargestellten Martin von Tours übermittelt.
Die Schriften Gregors des Großen sind einflussreiche Homilien, Kommentare und Viten, deren bekannteste, die Vita Sancti Benedicti, im 2. Buch seiner Dialoge in tausenden von Handschriften überall in Europa kopiert und verbreitet wurde. Er zählt deshalb zu den bedeutenden Kirchenlehrern, der zwar mit einer Neuordnung der Liturgie, aber nicht mit der Komposition von Gesängen in Verbindung gebracht werden kann.
Bereits die frühesten Quellen für die Messtexte, wie etwa das Cantatorium von Monza (I-MZ [Monza, Museo del Tesoro del Duomo] Inv. Nr. 88) aus dem 2. Drittel des 9. Jahrhunderts, beginnen mit der Zuschreibung an Gregor und enthalten den sogenannten Gregorius-Praesul-Prolog, in dem Gregor eben diese Verbindung zur musikalischen Gestaltung der Liturgie zugesprochen wird und dies auf der Grundlage der ars musica. Damit wird die Gregor-Legende über das Element der Inspiration auf die rationale, theoretische Durchdringung der Musik hin erweitert. Spätere Darstellungen zeigen dann auch Gregor selbst mit einem Monochord als Zeichen dieses Anspruchs. Die früheste Gestalt dieses Prologs aus dem späten 8. Jahrhundert liegt in der Handschrift I-Lc (Lucca, Biblioteca Capitolare) Ms. 490 vor und in neumierter Gestalt, als gesungener Einleitungstropus, z.B. in der Handschrift I-VEcap (Verona Biblioteca Capitolare) Ms. 107, f. 3v. Das zum Cantatorium von Monza gehörige Elfenbeindiptychon stellt Gregor den Großen außerdem parallel zu König David dar, womit dessen Funktion und Nimbus als Urheber des liturgischen Gesangs auf Gregor übertragen wird. Zudem übernehmen schon die frühesten Handschriften der Messliturgie die für die fränkische Liturgie eigentlich obsoleten Angaben (ad sanctum Paulum, ad sanctum Laurentium, ad sanctum Petrum etc.) des päpstlichen Stationsgottesdienstes in Rom. Eine andere Überlieferungsform des Gregor-Mythos stellt der Einleitungstropus Sanctissimus namque zum Introitus des 1. Advents (neumiert z.B. in I-VEcap, Ms. 107, f. 3r) dar. Damit wird programmatisch zu Beginn des Kirchenjahres der Anspruch erhoben, das gesamte nun sich entfaltende musikalische Repertoire sei mit Gregor verbunden. Die Verbindung Gregors mit dem Choralrepertoire im fränkischen Reich war so wirkmächtig, dass die in einem Brief Papst Leo IV. (847–855) und von Johannes Diaconus belegte Bezeichnung der römischen Singweise als Gregoriana carmina bzw. Gregorianus cantus auf die fränkische Redaktion übertragen und diese bis heute als »Gregorianischer« Choral bezeichnet wird.
Quellentexte
Admonitio generalis (789), in: MGH Capit. I , S. 52–66.
@incollection{., title = {Admonitio generalis (789)}, keywords = {Karolinger;Quellentexte}, pages = {52--66}, booktitle = {MGH Capit. I} }
Bertram, Jerome (Hrsg.), The Chrodegang rules. The rules for the common life of the secular clergy from the eighth and the ninth century. Critical texts with translations and commentary, Aldershot 2005.
@book{Bertram.2005, year = {2005}, title = {The Chrodegang rules. The rules for the common life of the secular clergy from the eighth and the ninth century. Critical texts with translations and commentary}, keywords = {Karolinger;Quellentexte}, address = {Aldershot}, editor = {Bertram, Jerome} }
Mordek, Hubert u. a. (Hrsg.), Die Admonitio generalis Karls des Großen (MGH Fontes iuris), Hannover 2012.
@book{Mordek.2012, year = {2012}, title = {Die Admonitio generalis Karls des Gro{\ss}en}, keywords = {Karolinger;Quellentexte}, address = {Hannover}, volume = {16}, series = {MGH Fontes iuris}, editor = {Mordek, Hubert and Zechiel-Eckes, Klaus and Glatthaar, Micheal} }
Tuzzo, Sabine (Hrsg.), Paulus Diaconus: Vita sancti Gregorii Magni, Pisa 2002.
@book{Tuzzo.2002, year = {2002}, title = {Paulus Diaconus: Vita sancti Gregorii Magni}, keywords = {Karolinger;Quellentexte}, address = {Pisa}, editor = {Tuzzo, Sabine} }
Handschriften
CH-SGs 390.
@book{CS3g, title = {CH-SGs 390}, keywords = {Handschriften;Karolinger} }
D-W Cod. 496a <http://diglib.hab.de/show_image.php?dir=mss/496a-helmst&pointer=0>
@book{DWC4, title = {D-W Cod. 496a}, url = {http://diglib.hab.de/show_image.php?dir=mss/496a-helmst&pointer=0}, keywords = {Handschriften;Karolinger} }
Elfenbeindiptychon, D-B (Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz), DI 58, Nr. 2 +.
@book{EDBSMzBPKD5N2, title = {Elfenbeindiptychon, D-B (Staatliche Museen zu Berlin, Preu{\ss}ischer Kulturbesitz), DI 58, Nr. 2 +}, keywords = {Handschriften;Karolinger} }
Elfenbein-Einband, A-Wkm (Kunsthistorisches Museum Wien, Kunstkammer), Inv. Nr. 8399.
@book{EEAWKMWKIN8, title = {Elfenbein-Einband, A-Wkm (Kunsthistorisches Museum Wien, Kunstkammer), Inv. Nr. 8399}, keywords = {Handschriften;Karolinger} }
F-CA Cod. 164.
@book{FCC1, title = {F-CA Cod. 164}, keywords = {Handschriften;Karolinger} }
F-Pn lat. 1141 <http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b53019391x>
@book{FPl1d, title = {F-Pn lat. 1141}, url = {http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b53019391x}, keywords = {Handschriften;Karolinger} }
I-Lc Ms. 490.
@book{ILM4, title = {I-Lc Ms. 490}, keywords = {Handschriften;Karolinger} }
I-MZ Inv. Nr. 88.
@book{IMIN8b, title = {I-MZ Inv. Nr. 88}, keywords = {Handschriften;Karolinger} }
I-VEcap Ms. 107.
@book{IVM1, title = {I-VEcap Ms. 107}, keywords = {Handschriften;Karolinger} }
Literatur
Duckett Shipley, Eleanor, Alcuin, friend of Charlemagne. His world and his work, New York 1951.
@book{AfoCHwahwDuckettShipley, author = {{Duckett Shipley}, Eleanor}, year = {1951}, title = {Alcuin, friend of Charlemagne. His world and his work}, keywords = {Karolinger;Literatur}, address = {New York} }
McKitterick, Rosamond, Carolingian culture. Emulation and innovation, Cambridge 1994.
@book{CcEaiMcKitterick, author = {McKitterick, Rosamond}, year = {1994}, title = {Carolingian culture. Emulation and innovation}, keywords = {Karolinger;Literatur}, address = {Cambridge} }
»Römischer Choral« – »Gregorianischer Choral«
Die frühesten Handschriften für den altrömischen Choral stammen erst aus dem 11. Jahrhundert:
drei Gradualien:
- I-Rvat lat. 5319 (um 1100)
- Rom, Archivio Capitolario San Pietro F. 22 <http://digi.vatlib.it/view/MSS_Arch.Cap.S.Pietro.F.22> (12. Jahrhundert)
- CH-CObodmer C 74 <http://www.e-codices.unifr.ch/en/cb/0074> (Privatbesitz, um 1071)
und zwei Antiphonare:
- GB-Lbm Add. 29988 (Mitte 12. Jahrhundert)
- Rom, Archivio Capitolare San Pietro B. 79 <http://digi.vatlib.it/view/MSS_Arch.Cap.S.Pietro.B.79> (2. Hälfte 12. Jahrhundert)
Beda Venerabilis berichtet im 8. Jahrhundert in seiner Kirchengeschichte vom Austausch römischer und angelsächsischer Kantoren, und auch Walahfried Strabo erzählt vor 850 von der Einführung der römischen Singweise unter Pippin und Papst Stephan II. Ausführlicher schildert Johannes Diaconus in seiner Vita Gregors das Verhältnis zwischen römischen und fränkischen Sängern. In offensichtlich satirischer Absicht und Überzeichnung werden hier im zweiten Buch die fränkischen Sänger der Unfähigkeit geziehen, die melodischen Feinheiten (inflexiones, repercussiones) der römischen Singweise mit ihren groben, »barbarischen« Kehlen auszuführen. Bereits unter Papst Gregor und Papst Vitalian (657–72) seien deshalb römische Kantoren als Korrektoren ausgesandt worden. Als Karl der Große erneut Abweichungen zwischen dem römischen und fränkischen Gesang feststellt, werden fränkische Kantoren in Rom ausgebildet und unter Papst Hadrian auch römische Kantoren u.a. nach Metz geschickt. Als »Gegensatire« berichtet Notker Balbulus von St. Gallen im 10. Kapitel seiner Gesta Caroli Magni (883), wie nun zwölf Sänger, die von Rom aus ins Frankenreich gesandt wurden, um dort die authentische Fassung des Chorals zu lehren, aus Neid und Bosheit mit Absicht falsche und verschiedene Fassungen an verschiedenen Orten verbreiteten. Wiederum bemerkt Karl der Große die Uneinheitlichkeit, und fränkische Sänger werden unter Papst Leo III. in Rom in der römischen Singweise unterrichtet. Diese Darstellung findet dann eine weitere Ausschmückung in einer autographen Glosse Ekkeharts IV. von St. Gallen zur St. Galler Kopie (CH-SGs 578, p. 54) der Vita Gregorii von Johannes Diaconus und schließlich in Kapitel 47 seiner Casus Sancti Galli [:] Die Sänger erhalten jetzt die bezeichnenden Namen »Petrus« und »Romanus«: Sie kommen aus Rom, und während Petrus nach Metz weiterzieht, bleibt Romanus krank in St. Gallen zurück. Aus Dankbarkeit für die Pflege der St. Galler Mönche lehrt Romanus dort die ursprüngliche Form des römischen Gesangs. Er übergibt dem Kloster auch eine Kopie seiner Kopie des authentischen Antiphonars Gregors d. Großen, die wie in Rom auf einem Gestell aufgestellt wird. Diese Handschrift gilt fortan als Referenzhandschrift in allen Zweifelsfragen und nimmt damit die Idee des Normexemplars der Zisterzienser und Dominikaner vorweg und verweist in diesem Denken, das offenbar von einer notierten Fassung der Gesänge ausgeht, wiederum auf das 11. Jahrhundert, in dem Ekkehart IV. seine »St. Galler Klostergeschichten« verfasste. Ähnlich spricht Ademar von Chabannes (um 988–1034) in seiner Fassung dieser Begebenheit in seiner »Geschichte der Franken« von einem Antiphonar, das Gregor selbst in römischer Notation notiert habe (antiphonarios sancti Gregorii, quos ipse notaverat nota Romana). Beide Berichtstraditionen sind sicher nicht wörtlich zu nehmen. Hierfür spricht z.B. bereits die dem Apostelkolleg nachgebildete symbolische Zahl der zwölf Sänger bei Notker und das erkennbare Anliegen, Karl III. (den Dicken) als Auftraggeber der Gesta und Urenkel Karls des Großen auf dessen Sorge um den liturgischen Gesang zu verpflichten. Offenbar fangen die Texte aber eine Alteritätserfahrung ein, wie sie bei der Begegnung zweier verschiedener Gesangskulturen und ihrer gegenseitigen Adaption entstand.
Quellentexte
Bourgain, Pascale (Hrsg.), Ademari Cabannensis opera omnia, 1: Ademari Cabannensis chronicon (CC CM), Turnhout 1999.
@book{Bourgain.1999, year = {1999}, title = {Ademari Cabannensis opera omnia, 1: Ademari Cabannensis chronicon}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Quellentexte}, address = {Turnhout}, volume = {129}, series = {CC CM}, editor = {Bourgain, Pascale} }
Haefele, Hans F. (Hrsg.), Ekkehard IV.: St. Galler Klostergeschichten, Darmstadt 1980.
@book{Haefele.1980, year = {1980}, title = {Ekkehard IV.: St. Galler Klostergeschichten}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Quellentexte}, address = {Darmstadt}, editor = {Haefele, Hans F.} }
——— (Hrsg.), Notker Balbulus: Taten Kaiser Karls des Großen. Gesta Caroli Magni, München 1980.
@book{Haefele.1980b, year = {1980}, title = {Notker Balbulus: Taten Kaiser Karls des Gro{\ss}en. Gesta Caroli Magni}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Quellentexte}, address = {M{\"u}nchen}, editor = {Haefele, Hans F.} }
Stäblein, Bruno und Margaretha Landwehr-Melnicki (Hrsg.), Die Gesänge des altrömischen Graduale (MMMA), Kassel 1970.
@book{Stablein.1970, year = {1970}, title = {Die Ges{\"a}nge des altr{\"o}mischen Graduale}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Quellentexte}, address = {Kassel}, volume = {2}, series = {MMMA}, editor = {St{\"a}blein, Bruno and Landwehr-Melnicki, Margaretha} }
Handschriften
CH-CObodmer C 74 <http://www.e-codices.unifr.ch/en/cb/0074>
@book{CCC7, title = {CH-CObodmer C 74}, url = {http://www.e-codices.unifr.ch/en/cb/0074}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Handschriften} }
CH-SGs 578.
@book{CS5, title = {CH-SGs 578}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Handschriften} }
GB-Lbm Add. 29988.
@book{GLA2d, title = {GB-Lbm Add. 29988}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Handschriften} }
I-Rvat lat. 5319.
@book{IRl5, title = {I-Rvat lat. 5319}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Handschriften} }
Rom, Archivio Capitolare San Pietro B. 79 <http://digi.vatlib.it/view/MSS_Arch.Cap.S.Pietro.B.79>
@book{RACSPB7, title = {Rom, Archivio Capitolare San Pietro B. 79}, url = {http://digi.vatlib.it/view/MSS_Arch.Cap.S.Pietro.B.79}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Handschriften} }
Rom, Archivio Capitolario San Pietro F. 22 <http://digi.vatlib.it/view/MSS_Arch.Cap.S.Pietro.F.22>
@book{RACSPF2, title = {Rom, Archivio Capitolario San Pietro F. 22}, url = {http://digi.vatlib.it/view/MSS_Arch.Cap.S.Pietro.F.22}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Handschriften} }
Rom, Archivio San Pietro B. 79 <http://digi.vatlib.it/view/MSS_Arch.Cap.S.Pietro.B.79>
@book{RASPB7, title = {Rom, Archivio San Pietro B. 79}, url = {http://digi.vatlib.it/view/MSS_Arch.Cap.S.Pietro.B.79}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Handschriften} }
Rom, Archivio San Pietro F. 22 <http://digi.vatlib.it/view/MSS_Arch.Cap.S.Pietro.F.22>
@book{RASPF2, title = {Rom, Archivio San Pietro F. 22}, url = {http://digi.vatlib.it/view/MSS_Arch.Cap.S.Pietro.F.22}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Handschriften} }
Faksimilia
Edition
Graduale Sciant gentes : GT 88–89; MMMA 2, 110–111
Literatur
Boe, Joe, „Chant notation in eleventh-century roman manuscripts“ in: Graeme M. Boone (Hrsg.), Essays on medieval music in honor of David H. Hughes , Cambridge 1995, S. 43–57.
@incollection{Boe.1995, author = {Boe, Joe}, title = {Chant notation in eleventh-century roman manuscripts}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Literatur}, pages = {43--57}, editor = {Boone, Graeme M.}, booktitle = {Essays on medieval music in honor of David H. Hughes}, year = {1995}, address = {Cambridge} }
Connolly, Thomas, „The gradual of S. Cecilia in Trastevere and the old-roman tradition“ in: Journal of the American Musicological Society 28, 1975, S. 413–458.
@article{Connolly.1975, author = {Connolly, Thomas}, year = {1975}, title = {The gradual of S. Cecilia in Trastevere and the old-roman tradition}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Literatur}, pages = {413--458}, volume = {28}, journal = {Journal of the American Musicological Society} }
Wilhelmi, Hans-Albert, Die \textquotedblVita Gregorii Magni\textquotedbl des Johannes Diaconus. Schwerpunkte ihrer Wirkungsgeschichte, Neuried 1998.
@book{DVGMdJDSiWWilhelmi, author = {Wilhelmi, Hans-Albert}, year = {1998}, title = {Die {\textquotedbl}Vita Gregorii Magni{\textquotedbl} des Johannes Diaconus. Schwerpunkte ihrer Wirkungsgeschichte}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Literatur}, address = {Neuried} }
Hucke, Helmut, „Toward a new historical view of Gregorian chant“ in: Journal of the American Musicological Society 33, 1980, S. 437–467.
@article{Hucke.1980, author = {Hucke, Helmut}, year = {1980}, title = {Toward a new historical view of Gregorian chant}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Literatur}, pages = {437--467}, volume = {33}, journal = {Journal of the American Musicological Society} }
———, „Die Entstehung des Gregorianischen Gesangs“ in: Josef Kuckertz (Hrsg.), Neue Musik und Tradition. Festschrift Rudolf Stephan zum 65. Geburtstag , Laaber 1990, S. 11–23.
@incollection{Hucke.1990, author = {Hucke, Helmut}, title = {Die Entstehung des Gregorianischen Gesangs}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Literatur}, pages = {11--23}, editor = {Kuckertz, Josef}, booktitle = {Neue Musik und Tradition. Festschrift Rudolf Stephan zum 65. Geburtstag}, year = {1990}, address = {Laaber} }
Hughes, David, „Evidence for the traditional view of the transmission of Gregorian chant“ in: Journal of the American Musicological Society 40, 1987, S. 377–404.
@article{Hughes.1987, author = {Hughes, David}, year = {1987}, title = {Evidence for the traditional view of the transmission of Gregorian chant}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Literatur}, pages = {377--404}, volume = {40}, journal = {Journal of the American Musicological Society} }
Levy, Kenneth, „On Gregorian orality“ in: Journal of the American Musicological Society ( 197-215) 43/197-215, 1990.
@article{Levy.1990, author = {Levy, Kenneth}, year = {1990}, title = {On Gregorian orality}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Literatur}, volume = {43}, number = {197-215}, journal = {Journal of the American Musicological Society} }
Cutter, Paul F., Musical sources of the Old-Roman mass (MSD), Rom 1979.
@book{MsotORmCutter, author = {Cutter, Paul F.}, year = {1979}, title = {Musical sources of the Old-Roman mass}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Literatur}, address = {Rom}, volume = {39}, series = {MSD} }
Stäblein, Bruno, „Zur Frühgeschichte des römischen Chorals“ in: Atti del Congresso Internazionale di Musica Sacra , Rom 1950, S. 271–275.
@incollection{Stablein.1950, author = {St{\"a}blein, Bruno}, title = {Zur Fr{\"u}hgeschichte des r{\"o}mischen Chorals}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Literatur}, pages = {271--275}, booktitle = {Atti del Congresso Internazionale di Musica Sacra}, year = {1950}, address = {Rom} }
———, „’Gregorius Praesul’, der Prolog zum römischen Antiphonale. Buchwerbung im Mittelalter“ in: Richard Baum und Wolfgang Rehm (Hrsg.), Musik und Verlag. Karl Vötterle zum 65. Geburtstag , Kassel 1968, S. 537–561.
@incollection{Stablein.1968, author = {St{\"a}blein, Bruno}, title = {'Gregorius Praesul', der Prolog zum r{\"o}mischen Antiphonale. Buchwerbung im Mittelalter}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Literatur}, pages = {537--561}, editor = {Baum, Richard and Rehm, Wolfgang}, booktitle = {Musik und Verlag. Karl V{\"o}tterle zum 65. Geburtstag}, year = {1968}, address = {Kassel} }
Treitler, Leo, „Homer and Gregory. The transmission of epic poetry and chant“ in: Musical Quaterly 60, 1974, S. 333–372.
@article{Treitler.1974, author = {Treitler, Leo}, year = {1974}, title = {Homer and Gregory. The transmission of epic poetry and chant}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Literatur}, pages = {333--372}, volume = {60}, journal = {Musical Quaterly} }
———, „Centonate chant. Übles Flickwerk or E pluribus unus?“ in: Journal of the American Musicological Society 28, 1975, S. 1–23.
@article{Treitler.1975, author = {Treitler, Leo}, year = {1975}, title = {Centonate chant. {\"U}bles Flickwerk or E pluribus unus?}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Literatur}, pages = {1--23}, volume = {28}, journal = {Journal of the American Musicological Society} }
———, „The ’unwritten’ and ’written transmission’ of medieval chant and the start-up of musical notation“ in: Journal of the American Musicological Society 10, 1992, S. 131–191.
@article{Treitler.1992, author = {Treitler, Leo}, year = {1992}, title = {The 'unwritten' and 'written transmission' of medieval chant and the start-up of musical notation}, keywords = {GregorianischerR{\"o}mischerChoral;Literatur}, pages = {131--191}, volume = {10}, journal = {Journal of the American Musicological Society} }
Älteste Quellen zum Choral
Zu den ältesten erhaltenen Text-Quellen für die Gesänge der Messe zählen:
- Ältestes erhaltenes Fragment eines Graduale: Fragment von Saróspatak (Ungarn), Italien, spätes 8. Jahrhundert, H-SA (Bibliothek der Reformierten Kirche S. N.)
-
Cantatorium von Monza (2. Drittel 9. Jahrhundert, Nordost-Fankreich) (M): Monza, Museo del Tesoro del Duomo, Inv. Nr. 88, ein in Gold und Silber wertvoll ausgestatter Codex aureus/Chrysograph
- Graduale von Monza: Bergamo?, um 820, I-MZ (Monza, Bibl. Capitolare) f-1/101
- Cantatorium aus Corvey (?), 2. Hälfte 9. Jahrhundert, heute dreigeteilt in Trier, Dombibl. 433; D-Bk (Berlin, Kunstbibliothek) 1400, US-CLm (Cleveland, Museum of Art) Illumination 33,446: Fragment, Nordost-Frankreich
- Graduale von Mont-Blandin (B), 8./9. Jahrhundert, B-Br 10127-44 <https://repository.teneo.libis.be/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=IE9417610&>
- Graduale/Tonar-Sakramentar von Corbie (K), nach 853, F-Pn lat. 12050 <http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8426782r>
- Graduale-Antiphonar-Sakramentar von Compiègne (C), 860–877, F-Pn lat. 17436 <http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8426787t/f14.image.r=17436.langDE> (»Antiphonar Karls des Kahlen«), mit Modusangaben zu den Introitus-Antiphonnen
- Graduale von Senlis , 4. Viertel des 9. Jahrhunderts, 877–882, (S), F-Psg 111 <https://archive.org/details/MS111>
- Graduale von Rheinau (um 800), (R), CH-Zz Rh. 30
Einzelne Fragmente haben sich auch als älteste Zeugen für das Offizium erhalten:
- CH-SGs 1399: Antiphonar ohne Notation, 8. Jahrhundert, sogenanntes »Winithar-Fragment«
- I-Lc (Lucca, Bibl. Capitolare) 490: Lucca, um 796 (Fragment)
- A-Wn, Fragment Cod. Ser. n. 3645 (Trägerband: Cod. 12.506), 2 Doppelblätter, Bayern, letztes Viertel 9. Jahrhundert, deutsche linienlose Neumennotation (zur selben Handschrift gehört das Bifolium D-Mbs Cgm 6943
- F-DOU (Douai, Bibliothèque municipale) Ms. 6: Fragment eines Antiphonars aus Anchin , Ende 9. Jahrhundert
Zu den ältesten Zeugnissen für den Gregorianischen Choral gehört schließlich auch ein Tonar ohne Notation, der die Gesänge nach den Psalmtönen ordnet, der Tonar von St. Riquier/Centula von 798 (F-Pn lat. 13159, f. 167r, »Psalter Karls des Großen«) sowie der sogenannte Karolingische Tonar von Metz () um 880, für Introitus- und Communio-Antiphonen, Offiziums-Antiphonen und für Responsorien des Offiziums.
Handschriften
A-Wn, Fragment Cod. Ser. n. 3645 (Trägerband: Cod. 12.506).
@book{AWFCSn3TC15, title = {A-Wn, Fragment Cod. Ser. n. 3645 (Tr{\"a}gerband: Cod. 12.506)}, keywords = {AeltesteQuellen;Handschriften} }
B-Br 10127-44 <https://repository.teneo.libis.be/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=IE9417610&>
@book{BB14b, title = {B-Br 10127-44}, url = {https://repository.teneo.libis.be/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=IE9417610&}, keywords = {AeltesteQuellen;Handschriften} }
CH-SGs 1399.
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CH-Zz Rh. 30.
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D-Ngm Hs. f. 156142.
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E-E Codex Vitrinas 17.
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F-DOU Ms. 6.
@book{FDM6, title = {F-DOU Ms. 6}, keywords = {AeltesteQuellen;Handschriften} }
F-ME Ms. 351 <https://www.flickr.com/photos/bmmetz/sets/72157640923158474/>
@book{FMM3, title = {F-ME Ms. 351}, url = {https://www.flickr.com/photos/bmmetz/sets/72157640923158474/}, keywords = {AeltesteQuellen;Handschriften} }
F-Psg 111 <https://archive.org/details/MS111>
@book{FP1, title = {F-Psg 111}, url = {https://archive.org/details/MS111}, keywords = {AeltesteQuellen;Handschriften} }
F-Pn lat. 12050 <http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8426782r>
@book{FPl1f, title = {F-Pn lat. 12050}, url = {http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8426782r}, keywords = {AeltesteQuellen;Handschriften} }
F-Pn lat. 17436 <http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8426787t/f14.image.r=17436.langDE>
@book{FPl1j, title = {F-Pn lat. 17436}, url = {http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8426787t/f14.image.r=17436.langDE}, keywords = {AeltesteQuellen;Handschriften} }
H-SA.
@book{HS, title = {H-SA}, keywords = {AeltesteQuellen;Handschriften} }
I-Lc 490.
@book{IL4, title = {I-Lc 490}, keywords = {AeltesteQuellen;Handschriften} }
I-MZ f-1/101.
@book{IMf11, title = {I-MZ f-1/101}, keywords = {AeltesteQuellen;Handschriften} }
I-MZ Inv. Nr. 88.
@book{IMIN8, title = {I-MZ Inv. Nr. 88}, keywords = {AeltesteQuellen;Handschriften} }
Trier, Dombibl. 433, D-Bk (Berlin, Kunstbibliothek) 1400, US-CLm (Cleveland, Museum of Art) Illumination 33,446.
@book{TD4DBBK1UCCMoAI34, title = {Trier, Dombibl. 433, D-Bk (Berlin, Kunstbibliothek) 1400, US-CLm (Cleveland, Museum of Art) Illumination 33,446}, keywords = {AeltesteQuellen;Handschriften} }
Literatur
Bischoff, Bernhard und Virginia Brown, „Addenda to Codices latini antiquiores“ in: Medical Studies 47, 1985, S. 346.
@article{Bischoff.1985, author = {Bischoff, Bernhard and Brown, Virginia}, year = {1985}, title = {Addenda to Codices latini antiquiores}, keywords = {AeltesteQuellen;Literatur}, pages = {346}, volume = {47}, journal = {Medical Studies} }
Froger, Jacques, „Le lieu de destination et de provenance du ’Compendiensis’“ in: Johannes Berchmans Göschl (Hrsg.), Ut mens concordet voci. Festschrift Eugène Cardine zum 75. Geburtstag , St. Ottilien 1980, S. 338–354.
@incollection{Froger.1980, author = {Froger, Jacques}, title = {Le lieu de destination et de provenance du 'Compendiensis'}, keywords = {AeltesteQuellen;Literatur}, pages = {338--354}, editor = {G{\"o}schl, Johannes Berchmans}, booktitle = {Ut mens concordet voci. Festschrift Eug{\`e}ne Cardine zum 75. Geburtstag}, year = {1980}, address = {St. Ottilien} }
Huglo, Michel, „Un tonaire du graduel de la fin du VIIIe siècle (Paris BN lat. 13159)“ in: Revue grégorienne 31, 1952, S. 176–186; 224–233.
@article{Huglo.1952, author = {Huglo, Michel}, year = {1952}, title = {Un tonaire du graduel de la fin du VIIIe si{\`e}cle (Paris BN lat. 13159)}, keywords = {AeltesteQuellen;Literatur}, pages = {176-186; 224-233}, volume = {31}, journal = {Revue gr{\'e}gorienne} }
———, „Observations codicologiques sur l’antiphonaire de Compiègne (Paris B.N.lat. 17436)“ in: Peter Cahn und Ann-Katrin Heimer (Hrsg.), De musica et cantu: Studien zur Geschichte der Kirchenmusik und der Oper. Helmut Hucke zum 60. Geburtstag , Hildesheim u. a. 1993, S. 117–130.
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———, „The cantatorium. From Charlemagne to the fourteenth century“ in: Peter Jeffery (Hrsg.), The study of medieval chant. Paths and bridges. East and West , Woolbridge 2001, S. 89–103.
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Loos, Ike de, „Das Antiphonarfragment ÖNB Cod. Ser. nov. 3645“ in: Muicologica Austriaca ( 167-170) 14/15/167-170, 1996.
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Siffrim, Petrus, „Eine Schwesterhandschrift des Graduale von Monza. Reste zu Berlin, Cleveland und Trier“ in: Ephemerides Liturgicae 64, 1950, S. 53–80.
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Unterkircher, Franz, „Fragmente eines karolingischen Chorantiphonars mit Neumen“ in: Codices manuscripti 11, 1985, S. 97–109.
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Neumennotationen
Die von Kenneth Levy vorgetragene These zur Entstehung der Neumenschrift, dass es bereits unter Karl dem Großen ein notiertes Antiphonar gegeben haben muss, misstraut der Leistungskraft einer mündlichen Tradition und hat die entscheidende argumentative Schwäche, dass sie einen notierten Archetypus postulieren muss, der bisher nirgends nachgewiesen werden konnte.
Im Laufe der Zeit wurden verschiedene Ursprungstheorien vorgebracht:
- Ekphonetische Notation griechisch-byzantinischer Handschriften (ekphonetisch = »ausrufend«: lauter Vortrag oder Aussprechen eines sakralen Textes). Diese Notation besteht aus paarweisen, begrenzten, stereotypen Zeichen, die oberhalb und unterhalb der Zeile stehen und kurze Textstücke (kolon ) umrahmen, um die passenden Formeln für die Ekphonesis ins Gedächtnis des Anagnostes (Lektors) zu rufen. Sie kommt vor allem in Evangeliaren vor, eine sichere Entschlüsselung ist allerdings nicht möglich. Als Ursprungstheorie für die Neumenschrift wurde die ekphonetische Notation vor allem durch den Musikwissenschaftler Constantin Floros diskutiert.
- Synthetische Zeichen orientalischer Notenschriften (z.B. hebräische ta-amim): Zeichen über Schriftlesungen zur Erleichterung der Kantillation, ein Hilfsmittel, um Textglieder an Melodiemodelle anzupassen. Sie unterstreichen vor allem die syntaktische und inhaltliche Gliederung des Textes.
- Beide Zeichensysteme unterscheiden sich markant vom analytischen Charakter der westlichen Neumenschrift, in der selbst in Gruppenzeichen einzelne Elemente erkennbar bleiben.
- Prosodische Zeichen der antiken Grammatiker, mit den Akzenten für acutus : ´, gravis : ` und circumflex : ^. Die ältere Akzent-Theorie setzte den Akut mit der Virga, den Gravis mit dem Punctum und den Circumflex mit der Clivis gleich. Dabei ergibt sich das Problem, dass für den Pes kein Akzentzeichen vorhanden ist. Martianus Capella beschreibt jedoch die Akzente nicht als »hoch« oder »tief«, sondern als Tonbewegungen der Stimme: »nach oben«, »nach unten«, »erst nach oben, dann nach unten«. Diese Beschreibung deckt sich mit dem Befund der sogenannten paläofränkischen Neumenschrift , die den Akut als Zeichen für den Pes setzt, und scheint auch mit Aurelians Beschreibung der Tonbewegungen in seinem Traktat Musica disciplina übereinzustimmen.
- Cheironomie : Handzeichen zur musikalischen Gestaltung sind seit dem Altertum in verschiedenen Kulturen bekannt: so z.B. im alten Ägypten oder beim jüdischen Tora-Vortrag. Nicht alle Neumenzeichen lassen sich aber aus Handbewegungen ableiten, zudem haben einige Neumenfamilien keine große Ähnlichkeit mit gestischen Zeichen. Es ist wohl eher wahrscheinlich, dass die Neumenzeichen vom Cantor mit der Hand nachgezeichnet wurden, aber nicht umgekehrt. Die Neumen bilden also eher die Stimm- als die Handbewegung ab. Das verschiedentlich vorgebrachte Argument gegen die These vom cheironomischen Ursprung der Neumen, die Handzeichen hätten beim Singen nicht so schnell ausgeführt werden können, ist, wie heutige eigene Erfahrungen bei der Leitung einer Schola zeigen, jedenfalls haltlos.
Im 9. und 10. Jahrhundert steht der Begriff neuma für eine lange melodische Wendung, ein Melisma, wie es z.B. als Erweiterung in Form von Tropen am Ende von Antiphonen oder sonstiger melismatischer Einschübe vorkommt und für den Iubilus des Alleluias. Für Notationszeichen benutzen musiktheoretische Traktate dieser Zeit den Begriff nota oder figura (musica).
Spezielle Namen für einzelne Neumen-Zeichen entstehen relativ spät, früheste Erwähnungen finden sich um 1100 bei Johannes (Affligemensis) und in Form von Neumentafeln aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts, die teilweise in Versform zum Memorieren der Namen gestaltet sind. Einzelne Neumen-Namen sind aber auch Wortschöpfungen des 19./20. Jahrhunderts.
Einige Bespiele für früheste Neumen-Zeugnisse:
- D-Mbs Clm 9543, f. 199v: Prosula Psalle modulamini zum Eröffnungsmelisma des Alleluia Christus resurgens (GT 226–227). Bisher der vermutlich älteste Beleg für Neumenschrift, Regensburg um 820–840, nach Datierung von Bernhard Bischoff; der Schreiber nennt sich am Ende selbst mit dem Namen Enguldio (Transkription und Faksimile Möller/Stephan 1991, S. 190
- Neumierte Passagen aus Martianus Capella De nuptiis Mercurii et Philologiae: z.B. GB-Ob Ms. Laud. lat. 118, f. 11v, Frankreich, 9. Jahrhundert
- D-B theol. lat. fol. 58, f. 1v., St. Omer (?), Anfang/Mitte 9. Jahrhundert, Nachträge Lorsch (?), Ende 9. Jahrhundert (?) (»Ludwigspsalter«): Enthält neumierte Carmina aus De consolatione philosophiae von Boethius
-
F-VAL (Valenciennes, Bibl. Municipale) Ms. 148, f. 71v, 72r, 84r, Frankreich, 2. Hälfte 9. Jahrhundert: Älteste erhaltene Handschrift der Musica disciplina von Aurelian mit paläofränkischen Neumen
- D-HEu Cod. Pal. lat. 52, f. 17v, um 870: Zwei neumierte Zeilen = 1 Strophe des Liber evangeliorum des Otfrid von Weissenburg, deutsche Neumen mit Liqueszenzen und litterae significativae, die wohl nur kurz nach der Entstehungszeit der Handschrift eingetragen wurden.
- F-Pn lat. 2291, St. Amand, 875/876, f. 16r: Teilweise neumiertes griechisches Gloria Doxa en ipsistis theo , paläofränkische Notation
- I-Rvat Pal. lat. 485, f. 48v, Lorsch, 860-875: Neumierung innerhalb des Exsultet der Osternacht
- CH-SGs 397, p. 30[31], St. Gallen, 3. Viertel 9. Jahrhundert: Exsultet, Neumierung des Anfangs von Vere quia dignum im Vademecum des Abtes Grimald von St. Gallen
- F-LA 266: Fragment eines Cantatorium aus Laon, 4. Viertel 9. Jahrhundert und damit älter als F-LA 239: (zusammen mit den Fragmenten F-LA 9 und F-LA 121) ältestes Zeugnis der lothringischen Notation, benutzt weniger litterae significativae
- D-Mbs Clm 14418 subject Passionale %} aus St. Emmeram , 9. Jahrhundert: kleine neumierte Abschnitte, die auf eine frühe Neumentradition im Donauraum hindeuten
Für weitere Zeugnisse sei auf Susan Rankin: Writing Sounds in Carolingian Europe, Cambridge 2018, 364–369 verwiesen.
Grundformen der Neumen: (s. Neumentabelle von Eugène Cardine)
- (Relativ) hoher Einzelton = Virga (= Rute)
- (Relativ) tiefer Einzelton = Punctum (im St. Galler Cantatorium nicht als Einzeltonneume) oder Tractulus (hierbei handelt es sich um eine moderne Wortschöpfung!) (jeweils im Verhältnis zum vorhergehenden oder folgenden Ton)
- 2 absteigende Töne = Clivis/Clinis/Flexa (= Hügel, Falte)
- 2 aufsteigende Töne = Pes/Podatus (= Fuß)
- 3 Töne: hoch - tief - hoch = Porrectus
(= sich erstrecken)
- tief - hoch - tief = Torculus (= Presse, Kurbel)
- absteigend: Climacus (= Höhepunkt)
- aufsteigend: Scandicus (= aufsteigen)
-
Beschreibung der Bewegungsrichtung einer zusätzlich angehängten Note, die zu einem tieferen Ton führt mit flexus, zu einem höheren Ton mit resupinus : z.B.: porrectus flexus, scandicus flexus, torculus resupinus
- Hinzugefügte Töne:
-
vorausgehend: praepunctis
- nachfolgend: sub(x)punctis
- z.B. pes subbipunctis
-
- Reperkussive Neumen, bei denen derselbe Ton mehrfach mit der Stimme
angestoßen wird:
- Di-/Bistropha , Bivirga : 2 wiederholte Töne
- Tristropha, Trivirga: 3 wiederholte Töne
- Trigon (drei Töne, die ersten beiden im Gleichklang, die dritte tiefer)
- Neumen, die eine vokale Verzierung anzeigen:
- Oriscus : allein stehend (gr. oriscos = kleiner Hügel)
In Verbindung mit anderen Neumen:
- Pressus maior = Virga + Oriscus (unisonisch) + Punctum (meist eine Sekunde, aber immer tiefer)
- Pressus minor (immer an Neume angehängt) = Oriscus (unisonisch) + Punctum z.B. Clivis + Pressus minor
- Virga strata = Virga + Oriscus: Tonrepetition oder aufsteigende kleine Sekunde
- Salicus = 3 aufsteigende Töne mit Oriscus in der Mitte
- Pes quassus = Pes mit Oriscus als erstem Element
- Quilisma (gr. kylisma = rollend), verzierende Aufwärtsbewegung oft im Halbtonbereich
und Terzabstand; meist als Quilisma-Pes im Cantatorium von St. Gallen
- zweizackig = Abstand zum oberen Ton große Sekunde
- dreizackig = Abstand zum oberen Ton kleine Sekunde
Veränderung dieser Grundformen durch
-
Buchstaben: Sogenannte litterae alphabeti significativae: Ekkehart IV. berichtet, Romanus habe als erster in seiner Abschrift des authentischen Antiphonars Gregors des Großen kennzeichnende Buchstaben eingetragen, die Notker später erläutert habe. Notker Balbulus aus St. Gallen erläutert in einem Brief an seinen Mitbruder Lantpert, der im Codex CH-SGs 381 (um 930) als ältester Quelle überliefert ist, diese Zusatzbuchstaben, deren Zusammenstellung offenbar an Martianus Capellas De nuptiis orientiert ist. Die Buchstaben ergänzen die Information der Neumenzeichen auf verschiedene Weise: agogisch (z.B. »c« = celeriter = rasch), auf Tonhöhen (z.B. »i« = iusum = tief, »s« sursum = hoch, »e« = equaliter = gleich) oder den Vortrag bezogen (z. B. »f« = cum fragore = mit Getöse). Viele dieser Zusatzinformationen sind einleuchtend. Vor allem in Bezug auf den Tonhöhenverlauf können sie bei Vergleich mit späteren Fassungen auf Linien diese sogar korrigieren. Andere entziehen sich einem unmittelbaren Verständnis: So bleibt z.B. unklar, was unter einem Vortrag »mit Getöse« genau zu verstehen wäre.
Den ältesten Nachweis der Verwendung von Zusatzbuchstaben in St. Gallen bildet die Notation lateinischer Verse auf leeren Seiten der ehemaligen St. Galler Handschrift der Consolatio philosophiae des Boethius (mit Notation der Carmina) I-Nn, IV.G.68 <https://digital.library.ucla.edu/catalog/ark:/21198/zz00294sdx> f. 207r/207v aus em späten 9. Jahrhundert (231v/232r) Auch Evangeliare des 8. und 9. Jahrhunderts ohne Notation weisen bereits einzelne der später für die litterae significativae benutzen Buchstaben (wie c, t, und l) beim Vortrag der Passion auf.
Besonders häufige Verwendung lässt sich auch in CH-E 121 feststellen. Da aber auch z.B. die Handschrift F-LA 239 litterae significativae aufweist, ist der Ort ihrer Entstehung nicht sicher auszumachen. -
Episeme: kleine Strichlein, die an die Zeichen angefügt eine Dehnung oder größere Wichtigkeit eines Tones anzeigen.
-
Schreibform: Flüssige, sogenannte kurrente Schreibformen können durch deren Gegenteil, die weniger flüssige, meist eher eckige, sogenannte nicht kurrente Schreibweise graphisch modifiziert werden und dadurch eine bestimmte gedehnte oder weniger flüssige Art des Vortrags einzelner Töne anzeigen.
-
Neumentrennung: Die graphisch getrennte Schreibung in Einzelzeichen von normalerweise graphisch verbunden geschriebenen Zeichen zeigt ebenfalls eine Unterbrechung des durchgehend flüssigen Vortrags an. Diese rhythmischen Modifikationen sind nach allgemeiner heutiger Forschungsmeinung nicht im Sinne eines proportional gemessenen Rhythmus zu verstehen, sondern modifizieren den Vortrag flexibel an bestimmten Stellen, der sich grundsätzlich nach dem rhetorischen Vortrag des Textes richtet. Allerdings sprechen die musiktheoretischen Traktate des 9. Jahrhunderts von einem Aufführungsmodus in proportionalen Längen und Kürzen, dessen Bedeutung und Geltungsbereich heute aber noch nicht geklärt ist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten solche Stellen bei Choralforschern wie Peter Wagner und Hugo Riemann aus einer von der Musik des 19. Jahrhunderts geprägten Vorstellung zu mensuralistischen Interpretationen des gesamten Choraltrepertoires, die heute als widerlegt gelten.
-
Liqueszenzformen:
Bestimmte Konstellationen von Konsonanten erfordern beim gesungenen Vortrag komplexe Artikulationen, die durch spezielle Neumenformen = Liqueszenzen angezeigt werden können:- Konsonanten: n, m, r, l, t, s, g (gn), b, c, d, x (gefolgt von Konsonant)
z.B.: confundentur, salvi, omnia, ostende, cordis, Israel, magnus, adiutor, et semitas, et iam, ad te - Diphtonge: au, ei, eu, oy
z.B.: laudate, eleison, euge, Moyse - Konsonantenwiederholung, konsonantisch gebrauchtes i zwischen zwei
Vokalen:
z.B.: alleluia
z.B. liqueszenter Pes = Epiphonus
liqueszente Clivis = Cephalicus
(in der Quadratnotation durch kleine Note nach links dargestellt)
- Konsonanten: n, m, r, l, t, s, g (gn), b, c, d, x (gefolgt von Konsonant)
Bsp: Der Beginn des Pfingst-Introitus Spiritus Domini zeigt in der Notation von CH-E 121, p. 255, wie die St. Galler Neumenschrift auf subtile Weise im Zusammenspiel ihrer verschiedenen Komponenten den gestalteten Vortrag anleitet. Als Vergleich dient die im Notentext der Vaticana festgehaltene Rekonstruktion des Tonhöhenverlaufs aus späteren Handschriften: Der Tractulus zu Beginn über Spi- weist auf den tiefen Beginn des Introitus mit der unteren Ambitusgrenze d des zugrundeliegenden 8. Modus hin. Nach dem Torculus über -ri- verbindet der Epiphonus über -tus das Wort Spiritus mit Domini auf engere Weise, als es mit der Normalschreibung des Pes der Fall gewesen wäre. Offenbar soll hierdurch ausgedrückt werden, dass der Schwerpunkt der Bedeutung auf Domini liegt, also auf dem »Geist des HERRN«. Dies wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass Domini als erste Zäsur kadenzierend gestaltet ist: Nach der Virga über Do-, die den relativen Hochton gegenüber dem folgenden Pes subbipunctis resupinus über -mi- anzeigt, ist dieser in seinem Pes-Element zu den Tönen g–a in der nicht kurrenten Form des Pes quadratus geschrieben, ebenso ist die abschließende Clivis g–f mit einem Episem als nicht kurrent gekennzeichnet. Als zusätzliche Hilfe für den tonhöhenmäßig korrekten Vortrag weisen ein »s(ursum)« und ein »l(evate)« beim Torculus über -ri- darauf hin, dass der erste Ton f des Torculus genügend hoch gegenüber dem tiefen Anfangston d anzusetzen ist, und außerdem der mittlere Ton a des Torculus eine große Terz nach oben steigt, und nicht etwa vielleicht nur eine Sekunde. Nach der Zäsur mit Domini zeigt »e(qualiter)« an, dass replevit mit dem demselben Ton f beginnt, mit dem Domini geendet hat. Die »s(ursum)«-Zeichen beim Pes über re- und bei der Virga über -ple- machen wieder auf einen genügend großen Tonschritt aufmerksam, das »e(qualiter)« nach der Virga zeigt an, dass der folgende Pes mit demselben Ton c’ beginnt. Bei ple- zeigt die Neumierung in F-LA 239 <https://bibliotheque-numerique.ville-laon.fr/idurl/1/1457>, f. 63r, im Unterschied zur Neumierung in der Einsiedler Handschrift zwei Pes-Bewegungen. Offenbar ging bereits in der St. Galler/Einsiedler Tradition der Anfangston des ersten Pes verloren, so dass nur noch eine Virga übrig blieb. Ihre Schreibung mit Episem bestätigt diese Vermutung, da sie anzeigt, dass offenbar die bereits beim Pes generell vorhandene Streberichtung vom tieferen ersten zum höheren zweiten Ton hier verstärkt empfunden und deshalb der leichte, untere Ton abgeschliffen wurde (pes initio debilis).
In Hinblick auf die Aufführungspraxis fordert die Institutio canonicorum Ludwigs des Frommen von 816 im Kapitel über die Sänger (cap. CXXXVII: De cantoribus), sie sollten »den Klang der Vokale deutlich und zierlich hervorbringen« (sonum etiam vocalium litterarum bene atque ornate perstrepant), die Psalmen sollten »nicht hastig und mit starker und ungezügelter Stimme, sondern schlicht und deutlich« (psalmi namque in ecclesia non cursim et excelsis atque inordinatis seu intemperatis vocibus, sed plenae ac dilucidae et cum conpunctione cordis recitentur) vorgetragen werden, damit den »Ohren der Zuhörenden geschmeichelt werde« (ut ... audientium aures illorum pronuntiatione demulceantur). Auch sollten die Herzen der Umstehenden nicht nur durch die Erhabenheit der Worte, sondern ebenso durch die Süße der Klänge (non solum sublimitate verborum, sed etiam suavitate sonorum) zur himmlischen Liebe geführt werden. Ganz ähnlich mahnt der Versprolog Hoc quoque Gregorius des von Hartker aus Sankt Gallen um 1000 geschriebenen Antiphonars die rechte Balance zwischen Wort und Musik ausdrücklich und eindringlich an (Carmina diversas sunt hec celebranda per horas ... verborum ne cura sonos, ne cura sonorum verborum normas nullificare queat).
Die Instituta patrum de modo psallendi sive cantandi aus dem 13. Jahrhundert fordert für den Psalmvortrag, er solle mit »mittlerer Stimmstärke, nicht zu schnell, aber mit runder, männlicher, lebendiger und deutlicher Stimme« (mediocri voce non nimis velociter sed rotunda virili viva et succincta voce psallatur; CH-SGs 556, p. 366a).
Notker Balbulus beschreibt in seinen Gesta einen incomparabilis clericus im Umkreis Karls des Großen, der in den geistlichen und weltlichen Wissenschaften, im geistlichen (divinarum cantileneque ecclesiastice) und weltlichen Gesang (iocularis novaque carminum) und in der Komposition und im Vortrag (compositione sive modulatione) neuer Gesänge sowie durch eine besonders schöne Stimme hervorragte (vocis dulcissima plenitudine inestimabilique delectatione cunctos praecelleret). Murethach/Muridac von Ennetach , der vor 840 in Auxerre lehrt, kommentiert die Ars maior von Donatus und demonstriert die dort besprochene Interpunktion (positurae: Punkt in hoher Position = Ende eines Satzes oder Abschnittes; Punkt in niedriger Position = Ende eines Unterabschnittes oder Komma, wo nicht mehr viel des übrigen Satzes folgt; Punkt in mittlerer Position = Mittelabschnitt oder Kolon, wo noch so viel vom Satz folgt, dass geatmet werden muss) anhand des Introitus Iubilate Deo omnis terra für den dritten Sonntag nach Ostern: »Iubilate deo omnis terra, ecce media distinctio; psalmum dicite nomini eius, ecce subdistinctio; date gloriam laudi eius, ecce distinctio«. Eine Handschrift aus Laon (F-LA 288) aus dem frühen 9. Jahrhundert, die Textsammlungen für Priesterkandidaten enthält, überliefert zahlreiche Textfehler, die offenbar auf eine dortige romanische Aussprache des Lateins schließen lassen: permanxit für permansit im Sinne einer evtl. nasalen Aussprache, crucifisus für crucifixus. Hucbald von St. Amand und Guido von Arezzo erwähnen die tremula vox, die einen bebenden oder zitternden Vortrag der Stimme beim Quilisma nahe legt. Der Traktat Quid est cantus spricht von einer nota quae dicitur tremula an den Stellen, wo in den Handschriften ein Quilisma steht. Aurelian verlangt eine dreimalige Tonwiederholung (terna vocis repercussione) beim Gloria Patri der Psalmodie dort, wo in den Handschriften eine Tristropha erscheint.
Bei der Erforschung der Neumenschriften nahm zunächst über lange Zeit die St. Galler Notation eine prominente Rolle ein. Das Sankt Galler Cantatorium (CH-SGs 359) gehört zu den ersten Neumenhandschriften, die im 19. Jahrhundert wiederentdeckt und 1851 im Lichtdruck durch den Jesuiten Louis Lambillotte veröffentlicht wurden. Es galt als das Antiphonar Gregors des Großen und aus diesem Missverständnis resultiert die große Bedeutung der St. Galler Neumenschrift in der Forschung. Aber bereits zur Entstehungszeit des Cantatoriums in der Zeit zwischen 900 und 920 sollte diese Handschrift bewusst eine Verbindung mit möglichst alten und authentischen Traditionen suggerieren: Die spätantiken, elfenbeinernen Dionysiaka-Reliefs des Einbanddeckels sollten für die Authentizität des Werkes als Abschrift des originalen Gregorianischen Antiphonars sprechen. Auch das Diptychonformat der Handschrift, das im 10.–11. Jahrhundert für die Cantatorien und Antiphonare sonst nicht mehr verbindlich war, steht noch ganz in der Tradition der karolingischen Antiphonare, die zur Zeit Karls des Großen nach römischen Vorbildern angefertigt wurden. Davon abgesehen kann die St. Galler Notation aber tatsächlich eine Vorbildfunktion reklamieren, weil sie
- zu den ältesten zählt
- besondere Anschaulichkeit und Differenziertheit besitzt
- auf den gesamten deutschsprachigen Raum ausstrahlt
- lange in Gebrauch bleibt (in Form der daraus abgeleiteten sogenannten Hufnagelnotation bis ins 14./15. Jahrhundert)
Allgemeine Kennzeichen der St. Galler Neumenschrift sind:
- Weitgehend horizontale Anordnung der Zeichen
- Schräge Schriftrichtung im Auf- und Abstieg
- Akzentneumen
- Adiastematie
- Ausgeprägte Differenzierung der Zeichen: Tractulus (relativ tieferer Ton), Virga (relativ höherer Ton), Quilisma mit zwei (Ganztonschritt) oder drei Bögen (beliebige Größe)
Inzwischen hat die Forschung aber auch die Bedeutung anderer Neumenschriften erkannt, die durch ihre jeweiligen Besonderheiten interessante Aufschlüsse über verschiedene Aspekte der Neumen geben. Im Folgenden seien einige davon ergänzend mit wichtigen Handschriften kurz vorgestellt:
- Lothringische
oder »Metzer« Neumen (in Bezug auf Metz als
Zentrum der frühen Choralpflege)
F-LA 239 <https://bibliotheque-numerique.ville-laon.fr/idurl/1/1457>: Missale/Sakramentar-Graduale, letztes Viertel 9. Jahrhundert, geschrieben in der Gegend von Laon für die Kathedrale Notre Dame von Laon Kennzeichen:- Relative Diastematie, Punktneumen
- Schriftrichtung: Anstieg schräg, Abstrich senkrecht
- Litterae significativae
- Tironische Noten (antike Kurzschrift)
- Speziell: Einzeltonzeichen = Uncinus (= »Kralle«, neuer Terminus des 20. Jh.) über einzelner Silbe, das in der Größe variieren und damit die Gewichtigkeit eines Tones und seiner Silbe anzeigen kann
- Möglichkeit der Neumentrennung, aber keine Episeme
- Liqueszenzen
-
Bretonische Neumen :
Die wichtigste Handschrift für die bretonische Neumenschrift, die zu den ältesten gehört, der Codex F-CHRm 47 <https://bvmm.irht.cnrs.fr/mirador/index.php?manifest=https://bvmm.irht.cnrs.fr/iiif/32293/manifest> aus dem 10. Jahrhundert, geschrieben in Westfrankreich, ist leider im Zuge des Zweiten Weltkrieges verbrannt, aber durch ein Faksimile innerhalb der Paléographie musicale wenigstens in schwarzweiss gesichert. Die Notation dieser Handschrift zeichnet sich durch eine relative Diastematie aus, deren Punktnotation mit Zusatzbuchstaben und zusätzlichen marginalen Modusangaben wertvolle Hinweise liefern. - Aquitanische Neumen:
- Punktneumen, diastematisch
- Vor allem im Süden Frankreichs
Bsp.: Graduale von St. Yriex (Diözese von Limoges), F-Pn 903 <http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b9068069f>,
- Jahrhundert, im Kloster St. Martial in Gebrauch
- Verwendung einer rastrierten, aber nur geritzten Linie, die bei den authentischen Modi die Terz, bei den plagalen die Finalis als Bezugslinie angibt (Ausnahme: E-Modus: f statt e)
- Verschiedene Sonderform der Virga, die konkrete Tonschritte codieren.
-
Lothringische Neumen auf farbigen Linien mit Schlüsselbuchstaben im Terzabstand und b-Vorzeichen:
Graduale, vermutlich aus dem Augustiner Chorherrenstift Klosterneuburg , A-Gu 807 <https://unipub.uni-graz.at/obvugrscript/content/titleinfo/5564576>, 12. Jahrhundert - Beneventanische Notation:
Verbreitung: Benevent, Bari, Montecassino
Kennzeichen: breite, eckige Graphie mit haardünnen Verbindungsstrichen durch Verwendung eines beschnittenen Schilfrohrs in schräger Haltung
Bsp.:- I-BV (Benevent, Biblioteca Capitolare), VI. Cod. 33, Ende 10./Anfang 11. Jahrhundert, in adiastematischer Notation
- I-BV Cod. VI. 34, Graduale mit Tropen, Sequenzen und Prosulae, 1080–1120: Durchgehende Rastrierung, c- und f-Schlüssel, c- Linie gelb, f-Linie rot, Kustoden.
Die beneventanischen Handschriften sind vor allem bei der Rekonstruktion der Tonstufe h/b besonders wichtig, das als »b« gelegentlich, allerdings von späterer Hand, eingefügt wurde.
- Paläofränkische Notation:
Wahrscheinlich die älteste Notation im Westen, bis ins 9. Jahrhundert zurückreichend.
Zeugnisse nur einzeln und ausschnittshaft erhalten:
- Z.B. in Neumierungen der Musica Disciplina von Aurelian,
- Teilweise neumiertes griechisches Gloria, 875/876, F-Pn lat. 2291, f. 16r
- Sakramentar aus Werden: D-DÜl (Düsseldorf, Universitäts- und
Landesbibliothek) MS D1, f. 126v:
Grundbestand: Messgebete für die ersten drei Sonntage der
Adventszeit.
Am Rand: Neumierte Gesänge für den ersten Advents-Sonntag, im 10. Jahrhundert in Essen nachgetragen
Ein Vergleich dieser Notation mit der Schrift von St. Gallen oder Laon macht den prinzipiellen Unterschied deutlich: Die paläofränkische Notation ist eine »Tonortschrift«: Der schräge Aufstrich, der in St. Gallen für den Hochton steht (Virga), bedeutet hier die Bewegung tief – hoch (Pes). Die Paläofränkische Neumen entsprechen damit der Beschreibung der accentus in mitteltalterlichen Grammatiktraktaten, die auf Martianus und Donatus beruhen.
Für weitere Neumenschriften, wie die Familie der französischen und italienischen Neumen , sei auf die entsprechende weiterführende Literatur verwiesen.
Quellentexte
Handschriften
A-Gu 807 <https://unipub.uni-graz.at/obvugrscript/content/titleinfo/5564576>
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CH-E 121.
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CH-SGs 390/391.
@book{CS33, title = {CH-SGs 390/391}, keywords = {Handschriften;Neumennotation} }
CH-SGs 342.
@book{CS3c, title = {CH-SGs 342}, keywords = {Handschriften;Neumennotation} }
CH-SGs 359.
@book{CS3d, title = {CH-SGs 359}, keywords = {Handschriften;Neumennotation} }
CH-SGs 381 <http://e-codices.unifr.ch/en/csg/0381/333/0/Sequence-513>
@book{CS3e, title = {CH-SGs 381}, url = {http://e-codices.unifr.ch/en/csg/0381/333/0/Sequence-513}, keywords = {Handschriften;Neumennotation} }
CH-SGs 397.
@book{CS3h, title = {CH-SGs 397}, keywords = {Handschriften;Neumennotation} }
D-B theol. lat. fol. 58.
@book{DBtlf5, title = {D-B theol. lat. fol. 58}, keywords = {Handschriften;Neumennotation} }
D-DÜl MS D1 <http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/id/3664968>
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I-BV Cod. VI. 34.
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I-Nn, IV.G.68 <https://digital.library.ucla.edu/catalog/ark:/21198/zz00294sdx>
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I-Rvat Pal. lat. 235.
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I-Rvat Pal. lat. 485.
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Faksimilia
Edition
Graduale Exultabunt sancti: GT 455–456
Literatur
Neumen auf Linien
Die Handschrift F-MOf H 159 <https://manuscrits.scdi-montpellier.fr/vignettem.php?ETG=OR&TYPE%5B%5D=NN&ETT=OR&MOCLE%5B%5D=Normandie&ETM=OR&BASE=manuf> entstand während der Reformbemühungen von Wilhelm von Volpiano in der Abtei St. Bénigne in Dijon an der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert. Sie stellt eine besondere Form des (Mess-)Tonars dar, in dem die Gesänge zunächst nach Gattungen (zuerst antiphonale, dann responsoriale Gesänge), darin nach den Modi, und darin wiederum nach dem Anfangston angeordnet sind.
Die Sonderzeichen an den Stellen der Halbtonstufen (⊢, ⊣, ⎾, ˥, ˩) zeigen vermutlich kleinere Tonschritte als Halbtöne und könnten ein Erbe des chromatischen und enharmonischen Genus der Antike sein, und damit zwischen den durch Buchstaben bezeichneten Tonstufen liegen. In der folgenden Übersicht sind sie durch ein »+« hinter der nächst tieferen Tonstufe des diatonischen Tonsystems dargestellt, was gleichzeitig ausdrücken soll, dass sie im melodischen Verlauf gerne zur nächst höheren Tonstufe streben:
Tonbuchstaben in F-MOf 159 | a | b | ⊢ | c | d | e | ⊣ | f | g | h | ⎾ | / | i | ˥ | k | l | m | ˩ | n | o | p |
Entsprechende Tonhöhen | A | H | H+ | c | d | e | e+ | f | g | a | a+ | b | h | h+ | c’ | d’ | e’ | e’+ | f’ | g’ | a’ |
Im 14. Jahrhundert lehrt Marchetto da Padua in seinem Traktat Lucidarium in arte musicae planae die Teilung des Ganztones in fünf gleiche Teile, die er in Anlehnung an antike Bezeichungen Diesis, Semitonium enarmonicum, Semitonium diatonicum und Semitonium Cromaticum nennt. In der Kombinationsnotation von F-MOf 159 treffen zwei Schriftsysteme aufeinander und ergänzen sich wechselweise mit ihren Vorteilen: Zum einen die der Praxis entstammende Neumenschrift, die den agogischen Verlauf des Vortrags mit seinen Nuancen anzeigt, zum anderen die Buchstabennotation, die aus der theoretischen Tradition kommend die Tonhöhen codiert, die von den Neumen nicht exakt mitgeteilt werden, aber ihrerseits die genauen Vortragsnuancen nur bedingt anzeigt.
Wie als Illustration hierzu wirken die Seiten 176 bis 178 des St. Galler Sequentiars CH-SGs 380 aus der Mitte des 11. Jahrhunderts, wo wohl im 15. Jahrhundert über dem Text der Sequenz Carmen suo dilecto ecclesia teilweise Tonbuchstaben zur Sicherung des in den Neumen in der Marginalspalte wiedergegebenen Tonverlaufs eingetragen wurden. Die Bemühungen um eine Klärung der Tonhöheninformation beginnen bereits in den Neumenschriften selbst mit verschiedenen Strategien zur Diastematisierung, indem die Zeichen auf dem Pergament den relativen Verlauf der Melodie durch ihre Positionierung oder selbst durch ihre graphische Gestaltung etwa die Größe des Intervalls oder Halbtonschritte anzeigen. Eine andere Methode entwickelt sich mit geritzten Linien, die sich im Fall des Graduale von St. Yrieix am Modus orientieren.
Mit der Einführung bzw. Propagierung der Liniennotation im Terzabstand und mit Schlüsseln durch Guido von Arezzo ergibt sich eine neue Strategie, der etwa die Handschriften aus Benevent folgen. Entscheidend hierbei ist, dass der musikalische Faktor der erklingenden Sprache von dieser abgetrennt und struktursichtig dargestellt wird, indem gegenüber der Notation der Musica enchiriadis nicht mehr die Silben, sondern die musikalischen Zeichen selbst auf die Linien gesetzt werden. Obwohl es zunächst die Neumenzeichen sind, die so auf dem Liniensystem erscheinen, wird dadurch ein Prozess der fortschreitenden Auftrennung der erklingenden Sprache in den Text- und den Musikanteil eingeleitet, der der ursprünglichen Intention der Neumenschrift fremd ist. Der Vorteil, damit die Tonhöhen genau codieren zu können, der für die Rekonstruktion der Melodien heute auch von entscheidender Wichtigkeit ist, wird allerdings mit dem gleichzeitigen Nachteil erkauft, nun alle Töne einer Melodie innerhalb dieses Rastersystems genau festlegen zu müssen. Dies führt besonders bei den ornamentalen Neumen immer wieder zu Schwierigkeiten, weil offenbar die Töne bei der Ausführung nicht genau festgelegt waren oder irgendwo zwischen den durch das geschlüsselte Liniensystem vorgegebenen Tonorten in Halb- und Ganztönen zu liegen kamen. Immer wieder ist deshalb zu beobachten, dass etwa das Quilisma in frühen Beispielen für Neumen auf Linien einfach als Neumenzeichen auf oder in die Linien geschrieben wird, ohne es genau zu verorten. Mit der Zeit ergibt sich allerdings der Effekt, dass solche Zeichen offenbar unter dem Druck der tonortlichen Klärung in Einzeltöne aufgelöst werden, die den eigentlich gemeinten Tönen im Rastersystem der Liniennotation am nächsten liegen, damit aber auch ihre individuelle Ausführung verlieren und schließlich ganz verschwinden. In der Tat zeigen die späteren Liniennotationen keine Zeichen wie Quilisma, Oriscus oder Pressus mehr. Der Gewinn an Information in Bezug auf die Tonhöhe geht folglich mit einem Verlust an Information für die vokale Ausführung einher, das Phänomen der gleitenden Tonvorstellung tritt hinter das der Tonortvorstellung zurück. Das Liniensystem stellt also eine radikale Vereinfachung der komplexen klingenden Wirklichkeit dar. Noch Richard Wagner äußert sich in diesem Sinne: »Die Einfachheit unseres Systems ist göttlich, wie das Christentum«.
Dies betrifft auch Töne außerhalb der Zierneumen, die etwa chromatische Stufen verlangen würden. Das Liniensystem nach Guido kennt in antiker Tradition nur die bewegliche Stufe b-durum/b-molle des synemmenon-Tetrachords. Treten in einer Melodie andere chromatische Stufen auf, sind verschiedene Lösungsstrategien in den notierten Handschriften zu beobachten:
- Die Stufe wird einfach durch die nächste im Liniensystem vorhandene ersetzt (also etwa Es durch E oder Fis durch F),
- Wenn möglich, wird das ganze Stück auf eine andere, modal verwandte Finalis transponiert, um so chromatische Stufen schreiben zu können
- Lassen sich die Probleme nicht durch eine einheitliche Transposition lösen, werden nur Abschnitte transponiert
So werden die Antiphonen auf das beliebte Melodie-Modell O mors ero mors tua (LU 773) meist mit der Psalmodie des 4. Tons verbunden, aber eine Quarte höher notiert, um das sonst notwendige fis zu vermeiden. Gradualien vom Typ Iustus ut palma (GT 510), die dem 2. Modus zugewiesen sind, werden meist nicht auf D, sondern auf A notiert, um den Wechsel zwischen Ganz- und Halbton über der Finalis mit B und H ausdrücken zu können, da das sonst notwendige Es nicht geschrieben werden konnte. Ebenso können etwa bei den Gradualien vom Typ A summo caelo (GT 27) das notwendige es als b (Hochton bei egressi-o) und das tiefe B als f durch Quint-Transposition auf der Finalis A notiert werden. Allerdings ergibt sich dadurch das Problem, das wohl ursprüngliche h nicht durch ein fis wiedergeben zu können. Die A-Gu 807 <https://unipub.uni-graz.at/obvugrscript/content/titleinfo/5564576> f. 7r notiert mit der ursprünglichen Finalis D und dem tiefen B, weicht aber bei es auf den Ton f (Hochton bei egressi-o) und bei h auf den Ton c aus. Ebenso kann in der Communio Tollite hostias (GT 338) das tiefe B durch Transposition des Deuterus von E auf h, in der Communio Circuibo das es als b durch Transposition des Tritus F auf c notiert werden. Im Introitus Exaudi Domine (GT 241) kann der Wechsel zwischen Halb- und Ganztonschritt über der Finalis und damit der Wechsel zwischen Deuterus- und Protus durch die Notierung auf der Finalis A und Verwendung von b-molle und b-durum anstelle des sonst notwendigen es oder fis geschrieben werden. Andere Handschriften fügen ein »to« (für tonus) oder »s« (für semitonus) hinzu, um einen ansonsten nicht notierbaren Ton anzuzeigen oder kombinieren wie in der Handschrift Montpellier 159 Neumen mit einer Variante der Buchstabennotation.
In den im 11. Jahrhundert neu entstehenden Reformorden, wie bei den Zisterziensern, ändern sich die Vorstellungen darüber, wie Choral zu sein hat: Die ersten Versuche der Zisterzienser, in ihrem allgemeinen Bemühen um die reinen Ursprünge der Liturgie auch die in ihren Ohren inzwischen degenerierten Gesänge nach ehrwürdigen Traditionen zu reformieren, scheitern, weil sie an den Orten dieser vermeintlichen Traditionen, in Metz und in Mailand für die Hymnen, selbst bereits verschiedene Fassungen der Gesänge vorfinden. Die neue Argumentation der Zisterzienser greift deshalb nicht mehr auf die offenbar als schwammig empfundene Tradition zurück, sondern definiert den regelgerechten Gesang nach den Gesetzen der natura, die sich als Ergebnis der göttlichen ratio zu erkennen geben, die in den geistinspirierten Gesängen wirkt. Einen Vorläufer findet dieses Vorgehen bereits im 9. und 10. Jahrhundert, als Gesänge, die dem System des Oktoechos nicht entsprachen, als nicht regelgerecht (non legitimae) eingestuft und entsprechend angepasst wurden. Die neuen Regeln der Zisterzienser für Ambitus, modale Zuordnung und Gestaltung und Länge von Melismen werden nun nicht mehr durch eine Tradition gesichert, sondern durch das neue Medium der Liniennotation, die die Zisterzienser fast von Anfang an einsetzen. Typischerweise entsteht hierbei ein prototypischer Mustercodex, aus dem alle Filialklöster eine Kopie für ihre Liturgie fertigen sollen. Hier zeigt sich eine wirkmächtige Verbindung von Liturgiereform und Schrift, die auch bei den späteren Reformorden der Dominikaner, Prämonstratenser und Franziskaner zu beobachten ist. Regelmäßig wird in den Handschriften angemahnt, beim Abschreiben exakt vorzugehen und Linien, Schlüssel und Töne nicht zu verändern. Bei den Franziskanern findet die fundamentale Forderung nach Einfachheit und Schlichtheit und die erneute Orientierung an Rom darin ihren Ausdruck, dass sie die Choralfassung der römischen Kurie unter Papst Nikolaus III. (reg. 1277–1280) mit ihren gegenüber dem monastischen Usus kürzeren und einfacheren Fassung für das Stundengebet (= Brevier) und die Messe übernehmen und die daraus entstandene Form des Chorals vom 13. Jahrhundert an als verbindlichen einheitlichen Gesang in ganz Europa verbreiten. Es bilden sich so eigene Choralvarianten der jeweiligen Orden heraus, die auch die Vereinheitlichungen im Zuge des Tridentinums wegen ihrer langen Tradition überdauern und teilweise bis heute existieren bzw. an deren Wiederentdeckung und Reetablierung gearbeitet wird. Bereits bei Guido von Arezzo lässt sich neben dem didaktischen Anliegen und Vorteil, einen bisher unbekannten Gesang ohne Lehrer erlernen zu können, die Sorge um das einheitliche Singen, wie es schon die Karolinger forderten, als Movens erkennen. Guido sieht, wie er in seinem Prologus in antiphonarium ausführt, in der Liniennotation ein Mittel, die Gefahr einer »periculosa discordia« der Gesänge abzuwehren, was an die karolingische Forderung nach der unitas in provincias erinnert.
Der deutsche Choraldialekt findet sich mit ersten Anzeichen bereits in CH-E 121 und erreicht seine volle Ausprägung dann besonders in Handschriften deutschsprachiger Provenienz wie dem Graduale A-Gu 807 oder dem Graduale der Thomaskirche zu Leipzig aus dem 13./14. Jahrhundert
Unter den Ordinariumsmelodien in cantus fractus-Notation weisen das sogenannte Credo Cardinalis und das Credo Regis/Apostolorum größere Verbreitung auf. Ersteres findet sich heute noch in den liturgischen Büchern als Credo IV (GT 767–779), für letzteres ist sogar Robert von Anjou , König von Sizilien (1278–1343), der sich auch einige Jahre in Avignon aufhielt, als Komponist nachzuweisen. Der sehr einfache Stil dieses Credos nur in Breven und Semibreven könnte auch mit der in Avignon erlassenen und sich gegen die notationstechnischen Neuerungen der Ars nova wendenden Apostolischen Konstitution Docta sanctorum von Papst Johannes XXII. in Zusammenhang stehen.
Über die Jahrhunderte entstehen auch neue Choralkompositionen, die sich in ihrem Idiom als Kinder ihrer Zeit deutlich zu erkennen geben, so z.B. im 16. Jahrhundert die Missa de Angelis, im 17. Jahrhundert das Salve Regina im tonus simplex und vom Ende des 19. Jahrhunderts an sogenannte »neogregorianische« Melodien für die vielen neu eingeführten kirchlichen Feste. So bleibt der Choral zwar als einzige musikalische Gattung des Mittelalters einerseits beständig in der Liturgie und in der Kompositionsgeschichte wirkmächtig und erhalten, als ein Teil von ihr erfährt er aber andererseits auch eine entsprechende zeittypische Adaption. Folgerichtig sind die seit dem 19. Jahrhundert einsetzenden Bemühungen um eine Rekonstruktion der frühesten Überlieferung der Choralmelodien von der Vorstellung geprägt, die späten, als deformiert bewerteten Fassungen zu hinterfragen und stattdessen auf möglichst frühe Liniennotationen zurückzugreifen, um deren Vereinfachungen und Verarmungen mithilfe der Informationen der Neumenschriften für den Vortrag zur ursprünglichen Differenziertheit zurückzuführen.
Quellentexte und Editionen
Hansen, Finn Egeland (Hrsg.), H 159 Montpellier. Tonary of St. Benigne of Dijon, Kopenhagen 1974.
@book{Hansen.1974, year = {1974}, title = {H 159 Montpellier. Tonary of St. Benigne of Dijon}, keywords = {NeumenAufLinien;Quellentexte}, address = {Kopenhagen}, editor = {Hansen, Finn Egeland} }
Handschriften
F-MOf H 159 <https://manuscrits.scdi-montpellier.fr/vignettem.php?ETG=OR&TYPE%5B%5D=NN&ETT=OR&MOCLE%5B%5D=Normandie&ETM=OR&BASE=manuf>
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Faksimilia
Mocquereau, André (Hrsg.), Antiphonarium tonale missarum XIe siècle. Codex H. 159 de la bibliothèque de l’école de médicine de Montpellier (PM), Solesmes 1901.
@book{Mocquereau.1901, year = {1901}, title = {Antiphonarium tonale missarum XIe si{\`e}cle. Codex H. 159 de la biblioth{\`e}que de l'{\'e}cole de m{\'e}dicine de Montpellier}, keywords = {Faksimilia;NeumenAufLinien}, address = {Solesmes}, volume = {XIII}, series = {PM}, editor = {Mocquereau, Andr{\'e}} }
Literatur
Gmelch, Joseph, Die Vierteltonstufen im Meßtonale von Montpellier (Veröffentlichungen der Gregorianischen Akademie zu Freiburg [Schweiz]), Eichstätt 1911.
@book{DViMvMGmelch, author = {Gmelch, Joseph}, year = {1911}, title = {Die Vierteltonstufen im Me{\ss}tonale von Montpellier}, keywords = {Literatur;NeumenAufLinien}, address = {Eichst{\"a}tt}, volume = {6}, series = {Ver{\"o}ffentlichungen der Gregorianischen Akademie zu Freiburg [Schweiz]} }
Engels, Stefan, „Die Notation der liturgischen Handschriften aus Klosterneuburg“ in: Musicologica Austriaca 14/15, 1996, S. 33–74.
@article{Engels.1996, author = {Engels, Stefan}, year = {1996}, title = {Die Notation der liturgischen Handschriften aus Klosterneuburg}, keywords = {Literatur;NeumenAufLinien}, pages = {33--74}, volume = {14/15}, journal = {Musicologica Austriaca} }
Huglo, Michel, „Le tonaire de St. Bénigne de Dijon“ in: Annales Musicologiques 4, 1956, S. 7–18.
@article{Huglo.1956, author = {Huglo, Michel}, year = {1956}, title = {Le tonaire de St. B{\'e}nigne de Dijon}, keywords = {Literatur;NeumenAufLinien}, pages = {7--18}, volume = {4}, journal = {Annales Musicologiques} }
Morent, Stefan, „Beobachtungen zur Intervallnotation Hermanns des Lahmen in Zwiefaltener Handschriften des 12. Jahrhunderts“ in: Ann-Katrin Zimmermann und Klaus Aringer (Hrsg.), Mozart in Zentrum, Festschrift Manfred Hermann Schmid zum 60. Geburtstag , Tutzing 2010, S. 1–13.
@incollection{Morent.2010, author = {Morent, Stefan}, title = {Beobachtungen zur Intervallnotation Hermanns des Lahmen in Zwiefaltener Handschriften des 12. Jahrhunderts}, keywords = {Literatur;NeumenAufLinien}, pages = {1--13}, editor = {Zimmermann, Ann-Katrin and Aringer, Klaus}, booktitle = {Mozart in Zentrum, Festschrift Manfred Hermann Schmid zum 60. Geburtstag}, year = {2010}, address = {Tutzing} }
Choralrestitution
Neben der Frage nach der ursprünglichen melodischen Gestalt steht vor allem die nach der rhythmischen Interpretation des Chorals im Fokus der Choralbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hier ist zu bedenken, dass in der Tradition des 19. Jahrhunderts eine Musik ohne feste rhythmische Gestalt schlichtweg nicht vorstellbar schien. Vor diesem Hintergrund entstanden verschiedene konkurrierende Rhythmustheorien: Pothier vertrat eine freiere Interpretation im »oratorischen Rhythmus«, Mocquereau entwickelte eine eigene Theorie, die von einem rhythmischen Grundwert und Gruppierungen in elementaren 2er- und 3er-Gruppen ausging, die durch Zusatzzeichen wie den Ictus (vertikales Strichlein), Episem oder Punkt verdeutlicht und dem Notenbild der Vaticana hinzugefügt wurden. Daneben existierten mensuralistische Theorien, wie sie z.B. von Peter Wagner vertreten wurden, und die von einer rhythmisch-metrischen Struktur des Chorals ausgingen, die sich in Viertel-, Achtel- und Sechzehntel-Notenwerte transkribieren lässt. Das Zweite Vatikanische Konzil stellte dann in seinen Äußerungen zum liturgischen Gesang die Forderung nach einer »editio magis critica« der liturgischen Bücher auf, in dem Bewusstsein, dass die Fassung der Vaticana nicht den Endpunkt des Bemühens um eine möglichst ursprüngliche Fassung des Chorals darstellen kann. Aufgegriffen wurde dieser Gedanke vor allem von dem Solesmer Mönch Dom Eugène Cardine (1905–1988), der sich erneut und vertieft der Erforschung der Neumenschriften zuwandte, diesmal unter dem neuen Aspekt, die innere Logik und musikalische Bedeutung der Neumenzeichen zu erkunden. Er wurde so zum Begründer der Gregorianischen Semiologie, die eine Brückenstellung zwischen Paläographie und Interpretation einnimmt. Die Ergebnisse seines Standardwerks Semiologia Gregoriana, veröffentlicht in Rom 1968 während seiner Professur am Päpstlichen Institut für Kirchenmusik, und die Arbeiten seiner Nachfolger und Schüler haben wesentliche neue Erkenntnisse vor allem für das Verständnis der Interaktion zwischen Text und Musik und für die Bedeutung der in den Neumenzeichen codierten theologisch-exegetischen Lesung des sakralen Textes erbracht. Auf dem Gebiet der Notation wurden durch die sogenannten »Neographien « Verbesserungen der Quadratnotation durch Hinzufügung von speziellen Zeichen z.B. für Quilisma und Liqueszenz erreicht, so z.B. im Psalterium Monasticum von 1981. Die Notation der Vaticana stellt eine typisierte Quadratnotation dar, die aber mit zusätzlichen modernen Interpretationszeichen versehen wurde, vor allem was die Gliederungsabschnitte betrifft: Der Viertelstrich soll die Gliederung kleiner textlicher Abschnitte oder von Abschnitten innerhalb eines Melismas, der Halbstrich die eines größeren Text- und Melodiebogens, der Ganzstrich das Ende einer Phrase und der Doppelstrich das Ende des Gesangs oder den Wechsel von Chorhälften oder von Chor und Solist anzeigen. Der Asteriskus trennt die Intonation des Solisten von der Schola bzw. vom Chor ab. All diese Zusatzzeichen haben meist keinen Rückhalt in der Überlieferung der frühesten Handschriften und gehen teilweise auf eine deutlich spätere Aufführungspraxis zurück. In den späteren Ausgaben der Vaticana durch Solesmes wurden deshalb z.B. bei den Viertelstrichen, die oft fragwürdig positioniert sind oder sogar Gruppenneumen unterbrechen, Bindebögen eingefügt, um diese unpassende Trennung zu überwinden.
Demselben Prinzip wie das Graduale Triplex folgt das in Solesmes 1978 herausgegebene Offertoire neumé , das auf dem Offertoriale von Karl Ott 1935 fusst, das wiederum erstmals wieder die Verse der Offertorien zugänglich machte.
Die Ergebnisse der semiologischen Forschung führten auch dazu, dass Korrekturvorschläge erarbeitet wurden, um die in der Synopse zwischen dem Quadratnotentext der Vaticana und den Neumennotationen erkennbaren, teilweise deutlichen Diskrepanzen durch Modifikationen des Notentextes der Vaticana aufzulösen. Diese über Jahrzehnte gesammelten Restitutionsvorschläge wurden kontinuierlich in den Beiträgen zur Gregorianik veröffentlich und erstmals in einem ersten Band als Graduale Novum 2011 für eine Auswahl von Gesängen geschlossen veröffentlicht. Diese restituierten Fassungen bringen die Gesänge zwar weitaus näher an die durch die frühen Neumenschriften belegten Fassungen heran, es kann sich hierbei aber immer nur um Vorschläge und Optionen handeln, die letztlich virtuell bleiben, denn den genauen Verlauf der in den adiastematischen Neumenhandschriften überlieferten Melodien wird man nie genau wiedergewinnen können, der Verlust der mündlichen Tradition ist auch durch die beste Liniennotation und die gründlichste Erforschung der Neumenzeichen nicht zu überwinden. Dies schon deshalb, weil selbst die frühen Neumennotationen in sich und im Vergleich zueinander nicht widerspruchsfrei sind. Der Versuch einer Edition critique des Graduale durch Solesmes zeigte bereits die Unmöglichkeit auf, eine und die einzige »Urfassung« des Gregorianischen Chorals zu finden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass selbst die frühesten Überlieferungen zwar im Allgemeinen dieselben Gesänge überliefern, allerdings mit im Detail charakteristischen Abweichungen, die nicht als Verfälschungen von einem vorgeblichen »Original« zu verstehen sind, sondern als individuelle Akzentsetzungen einzelner lokaler Traditionen. Eine Restitution kann sich einer bestimmten Fassung unter mehreren gleichberechtigten nur möglichst dicht annähern.
Quellentexte
Hermesdorff, Michael (Hrsg.), Graduale ad normam cantus S. Gregorii auf Grund der Forschungs-Resultate und unter Beihülfe der Mitglieder des Vereins zur Erforschung alter Choral-Handschriften nach den ältesten und zuverlässigsten Quellen bearbeitet und herausgegeben, Leipzig 1876.
@book{Hermesdorff.1876, year = {1876}, title = {Graduale ad normam cantus S. Gregorii auf Grund der Forschungs-Resultate und unter Beih{\"u}lfe der Mitglieder des Vereins zur Erforschung alter Choral-Handschriften nach den {\"a}ltesten und zuverl{\"a}ssigsten Quellen bearbeitet und herausgegeben}, keywords = {Choralrestitution;Quellentexte}, address = {Leipzig}, editor = {Hermesdorff, Michael} }
Le Graduel Romain. Edition critique par les moines de Solesmes, II: Les sources; IV: Le texte neumatique: vol. 1: Le groupement des manuscrits, vol. 2: Les relations généalogiques des manuscrits, Solesmes 1957-1962.
@book{LGREcplmdSILsILtnv1Lgdmv2Lrgdm, year = {1957-1962}, title = {Le Graduel Romain. Edition critique par les moines de Solesmes, II: Les sources; IV: Le texte neumatique: vol. 1: Le groupement des manuscrits, vol. 2: Les relations g{\'e}n{\'e}alogiques des manuscrits}, keywords = {Choralrestitution;Quellentexte}, address = {Solesmes} }
Handschriften
CH-SGs 339 <https://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/csg/0339>
@book{CS3b, title = {CH-SGs 339}, url = {https://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/csg/0339}, keywords = {Choralrestitution;Handschriften} }
Literatur
Jacobsthal, Gustav, Die chromatische Alteration im liturgischen Gesang der abendländischen Kirche, Berlin 1897.
@book{DcAilGdaKJacobsthal, author = {Jacobsthal, Gustav}, year = {1897}, title = {Die chromatische Alteration im liturgischen Gesang der abendl{\"a}ndischen Kirche}, keywords = {Choralrestitution;Literatur}, address = {Berlin} }
Fischer, Rupert, „Die Notation von Stücken mit chromatisch alterierten Tönen. Schwierigkeiten der melodischen Restitution“ in: BzG 29, 2000, S. 43–78.
@article{Fischer.2000, author = {Fischer, Rupert}, year = {2000}, title = {Die Notation von St{\"u}cken mit chromatisch alterierten T{\"o}nen. Schwierigkeiten der melodischen Restitution}, keywords = {Choralrestitution;Literatur}, pages = {43--78}, volume = {29}, journal = {BzG} }
Heller, Karl-Leo, „Hinweise zum Stimmklang in gregorianischen Handschriften. Überlegungen zu einer klanglichen Interpretation der Oriscus-Graphien“ in: BzG ( 57-68) 45/57-68, 2007.
@article{Heller.2007, author = {Heller, Karl-Leo}, year = {2007}, title = {Hinweise zum Stimmklang in gregorianischen Handschriften. {\"U}berlegungen zu einer klanglichen Interpretation der Oriscus-Graphien}, keywords = {Choralrestitution;Literatur}, volume = {45}, number = {57-68}, journal = {BzG} }
Maessen, Geert, „Zin en onzin van de restituties in de Beiträge zur Gregorianik“ in: Tijdschrift voor Gregoriaans 35, 2010, S. 48–53; 84–95.
@article{Maessen.2010, author = {Maessen, Geert}, year = {2010}, title = {Zin en onzin van de restituties in de Beitr{\"a}ge zur Gregorianik}, keywords = {Choralrestitution;Literatur}, pages = {48-53; 84-95}, volume = {35}, journal = {Tijdschrift voor Gregoriaans} }