In der Handschrift F-Pn lat. 1154, die auch den Planctus auf Karl den Großen und auf andere historische Persönlichkeiten überliefert, sind auch neumierte Carmina von Boethius enthalten (f. 118r-121r). Ebenso findet sich dort das Carmen Ut quid iubes pusiole (f. 131v-132r) von Godescalc von Orbais (806/808–866/870): Es spricht von der Sehnsucht, die er während seines Aufenthaltes im Inselkloster Reichenau nach seinem geliebten jüngeren Freund, vielleicht einem Mitschüler aus Fulda , durchlebte. Auch Angilberts Klage über die Schlacht von Fontenay vom 25. 6. 841 ist in der Handschrift eingetragen. Leider lassen die adiastematischen Neumen der Handschriften nur bedingt Rückschlüsse auf die Melodien zu.
In einem Nachtrag der Handschrift A-Wn 116, f. 157v, aus dem Ende des 10. Jahrhunderts ist wohl das älteste bisher bekannte lateinische Liebeslied des Mittelalters eingetragen worden: Iam dulcis amica venito besteht aus 10 Strophen à vier Verse, die mit adiastematischen deutschen Neumen versehen wurden. Nur die ersten beiden Verse sind durch Parallelüberlieferung in dem südfranzösischen Tropar F-Pn lat. 1118 aus dem Ende des 10. Jahrhunderts in einem Nachtrag um 1000 in Tonhöhen lesbar, die ein melodisches Modell zur Nachzeichnung der Versstruktur erkennen lassen. Das Lied ist ebenfalls, aber ohne Notation, in der Cambridger Liedersammlung enthalten.
Die Handschrift der Carmina burana (D-Mbs clm 4660/4660a), wurde um 1230 von zwei Schreibern gefertigt, einige Nachträge stammen aus dem 14. Jahrhundert. Der Entstehungsort ist aufgrund des Sprach- und Schreibstils mit einiger Sicherheit im südbayerischen Raum anzunehmen, vielleicht am Bischofshof von Seckau in der Steiermark oder im Augustiner Chorherrenstift Neustift in Südtirol, die genaue Lokalisierung ist aber nach wie vor offen. Eventuell könnte eine genauere Analyse der teilweise vorhandenen Neumenschrift und der Fassungen der neumierten liturgischen Gesänge eine Spur zur näheren Eingrenzung bieten. 40 Texte der Carmina burana sind mit adiastematischen deutschen Neumen versehen. Zu 13 von ihnen konnten bisher durch Parallelüberlieferung und Kontrafakturen die Melodien rekonstruiert werden. Die häufigsten Quellen hierfür sind die St. Martial-Handschriften und Handschriften für das Notre Dame-Repertoire. Aber auch die Melodie des Conductus Congaudentes celebremus aus dem Ludus Danielis aus Beauvais lässt sich für das durch Carl Orffs Vertonung von 1937 berühmt gewordene In taberna quando sumus (f. 87v, als Vorlage vermuten. Hierbei zeigen die neumierten Fassungen des Codex Buranus aber häufig substantielle Abweichungen, so dass sich auch hier die Frage nach den Überlieferungswegen stellt. So sind einige der Lieder aus der Carmina burana-Handschrift parallel nur in mehrstimmigen Fassungen überliefert, was abweichende Lesarten erklären kann.
Früher als die Carmina burana-Handschrift wurde die Sammlung der insgesamt 83 »Cambridger Lieder« (Carmina Cantabrigiensia), die als Abschrift in der im Kloster St. Augustine/Cambridge um 1050 entstandenen Handschrift GB-Cu (Cambridge University Library), Gg 5.35 erhalten ist (mit teilweiser Parallelüberlieferung in einer Wolfenbütteler Handschrift), zusammengestellt. Die ursprüngliche Vorlage entstand dem Sprachstand der wenigen althochdeutschen Verse nach zu urteilen vermutlich im 10. Jahrhundert im Rheinland, die Gesamtsammlung vielleicht am Hof Heinrichs III. . In ihr sind lateinische Dichtungen verschiedener Autoren aus dem 10. und 11. Jahrhundert enthalten, darunter Liebes-, Tanz- und Trinklieder, aber auch Planctus und Preislieder auf verschiedene deutsche Herrscher, wie Konrad II. und Otto I. . Wie der Codex Buranus ist die Cambridger Liedersammlung nur in adiastematischen Neumen notiert, ihre Vortragsweisen werden mit modus bezeichnet. Für das neumierte Liebeslied O admirabile Veneris idolum (f. 441v) existiert die geistliche Kontrafaktur O Roma nobilis in I-Rvat lat. 3327, die in der Handschrift I-MC (Monumento Nazionale di Montecassino) 318, f. 291 in Guidonischer Buchstabenschrift in lesbarer Form überliefert ist.
Quellentexte und Editionen
Barrett, Sam (Hrsg.), The melodic tradition of Boethius’ De consolatione philosophiae in the Middle Ages (MMMA), Kassel u.a. 2013.
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Bobeth, Gundela (Hrsg.), Antike Verse in mittelalterlichen Vertonungen. Neumierungen in Vergil-, Statius-, Lucan- und Terenz-Handschriften (MMMA), Kassel u.a. 2013.
@book{Bobeth.2013, year = {2013}, title = {Antike Verse in mittelalterlichen Vertonungen. Neumierungen in Vergil-, Statius-, Lucan- und Terenz-Handschriften}, keywords = {LateinischeDichtung;Quellentexte}, address = {Kassel u.a.}, volume = {Subsidia 5}, series = {MMMA}, editor = {Bobeth, Gundela} }
Clemencic, René u. a. (Hrsg.), Carmina burana: lateinisch - deutsch. Gesamtausgabe der mittelalterlichen Melodien mit den dazugehörigen Texten, München 1979.
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Hilka, Alfons und Otto Schumann (Hrsg.), Carmina Burana, Heidelberg 1930-1941.
@book{Hilka.19301941, year = {1930-1941}, title = {Carmina Burana}, keywords = {LateinischeDichtung;Quellentexte}, address = {Heidelberg}, editor = {Hilka, Alfons and Schumann, Otto} }
Wälli, Sylvia (Hrsg.), Melodien aus mittelalterlichen Horaz-Handschriften. Edition und Interpretation der Quellen (MMMA), Kassel 2002.
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Ziolkowski, Jan M. (Hrsg.), The Cambridge songs (Carmina Cantabrigiensia), New York and London 1994.
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Faksimilia
Bischoff, Bernhard (Hrsg.), armina Burana. Faksimile-Ausgabe der Handschrift Clm 4660 und Clm 4660a, Bayerische Staatsbibliothek (Publications of Mediaeval Musical Manuscripts), München and Brooklyn 1967.
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Breul, Karl (Hrsg.), The Cambridge songs. A goliard’s song book of the XIth century, Cambridge 1915.
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Handschriften
Literatur
Lipphardt, Walter, „Unbekannte Weisen zu den Carmina burana“ in: Archiv für Musikwissenschaft 12, 1955, S. 122–142.
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Díaz y Díaz, Manuel, Poesía latina medieval (siglos V–XV). Actas del IV Congreso del \textquotedblInternationales Mittellateinerkomitee\textquotedbl, Santiago de Compostela, 12–15 de septiembre de 2002, Florenz 2005.
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Waichinger, Burghart, „Deutsche und lateinische Liebeslieder. Zu den deutschen Strophen der Carmina Burana“ in: Hans Fromm (Hrsg.), Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung, Bd. II (Wege der Forschung), Darmstadt 1985, S. 275–308.
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