Tonare
Die ältesten schriftlich greifbaren Zeugnisse einer rationalen Strukturierung des Chorals bilden sogenannte Tonare, wie z.B. der 798 geschriebene Tonar von St. Riquier/Centula F-Pn lat. 13159 <http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b84267835/f337.image>, der, wie alle folgenden Tonare, die liturgischen Gesänge nicht wie die Gradualien und Antiphonalien in ihrer durch die liturgische Zeit vorgegebenen Ordnung erfasst, sondern nach dem eigenständig musikalischen Kriterium der Kirchentöne gruppiert.
Eine solche eingewobene Struktur scheint bis zu Beginn des 8. Jahrhunderts sozusagen nur verborgen im sängerischen Vollzug gegenwärtig gewesen zu sein. Im Verlauf der dann einsetzenden Durchrationalisierung der tonalen Ordnung des Chorals werden auch dessen Unterschiede im Vergleich zum antiken System deutlich, die aber nicht so groß sind, dass eine Einpassung des Chorals in das antike Tonsystem unmöglich wäre. Auch zwei Kurz-Traktate, die mit dem Tonar von Metz (F-ME Ms. 351 <https://www.flickr.com/photos/bmmetz/sets/72157640923158474/>) verbunden sind (um 880 nach einer älteren Vorlage), beschreiben den tieferen Klang der plagalen Modi.
Musica enchiriadis
Die früheste erhaltene Abschrift mit den Scholica enchiriadis scheint mit dem Fragment D-DÜl (Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek) Ms. K3:H3 aus dem 9. Jahrhundert vorzuliegen. Dieter Torkewitz hat zuletzt versucht, dieses Fragment nach Werden zu lokalisieren und damit den Autor mit Abt Hoger von Werden zu identifizieren. Die erste Edition in Gerberts Scriptores von 1784 schrieb den Traktat Hucbald von St. Amand zu.
Wie stark die Kraft des einmal gewählten theoretischen Systems ist, zeigt sich sehr bezeichnend daran, dass es den Autor selbst in Bedrängnis bringt: Denn als auf den ersten Blick merkwürdiger Nebeneffekt der verbundenen Tetrachorde verliert sich die Oktavidentität des Systems. Bei den Oktavierungen des parallelen Quintorganums scheint dies zunächst keine Rolle zu spielen, da es sich nur um verdoppelte Stimmen handelt, die selbst keiner theoretisch reflektierten Rückbindung an das System bedürften, sie liegen sozusagen außerhalb dieses Rasters (non sequitur sui loci ordinem). Durch ihren hohen Verschmelzungsgrad weisen sie auch nicht die Qualität des »Auseinanderklingens« auf. Später bemerkt der Autor in Gestalt einer Nachfrage des Schülers in den Scholica aber selbst den eigenen Engpass, in den sein System führt. Er entkommt ihm nur mit einem »Trick«, indem er erklärt, an diesen Stellen würden sich die Stimmen »mit einer gewissen Flexibilität und auf eine gleichsam wunderbar verborgene Weise« (cum quadam fexibilitate sub mirabile quadam obscuritate) in den Oktaven angleichen. Auch kennt und benutzt er die Buchstabennotation nach Boethius mit Oktavrepetition. Durch geschickte Auswahl der Systemausschnitte und der mit Dasia-Zeichen versehenen Stimmen werden bei den Diagrammen zum Organum zudem übermäßige Oktaven, wie sie durch die fortlaufenden Dasia-Zeichen entstehen könnten, vermieden. Während die Dasia-Zeichen also den strukturellen Verlauf der Tetrachorde verdeutlichen, ist davon der Zusammenklang bei oktavverdoppelnden Stimmen nicht betroffen.
Bei der Erklärung der modi oder toni dienen Finalis und Ambitus als Kriterien. Zu jeder Finalis gehört ein Moduspaar, die aus dem Griechischen abgeleitet mit protus, deuterus, tritus und tetradus gezählt werden und der jeweils höhere Partner mit authentus , der tiefere mit subiugalis (minor, lateralis) bezeichnet wird. Die untere Ambitusgrenze liegt für beide eine Quinte unter der Finalis, die obere für die authentischen Modi eine None bzw. für die plagalen eine Quinte über der Finalis. Damit liegt eine erste Theorie der Modi vor, die in den weiteren Traktaten des Mittelalters entfaltet und auch modifiziert wird.
Hucbald von St. Amand
Auch für die Demonstration des antiken Tetrachords in seiner ursprünglichen Anordnung von oben nach unten (T–T–S) zieht Hucbald die bekannte Nonenoeane-Formel für den authentischen Protus heran, obwohl die Abwärtsbewegung und das Ende auf E in der Tonfolge a–g–f–e für den authentischen Protus eher untypisch ist. In Bezug auf das antike synemmenon-Tetrachord bezeugt Hucbald den variablen Gebrauch der Tonstufen b quadratum (durum, h) und b rotundum (molle, b): So im 1. Modus beim Responsorium Nativitas gloriosae virginis Mariae (Nocturnale Romanum, 280*) und beim Introitus Statuit Dominus , besonders aber in Gesängen des Tritus wie bei der Antiphon Ecce iam veniet , die zunächst h verwendet, beim Wort plenitudo aber das b, oder die Antiphon Paganorum multitudo mit h bis zur Silbe -tu, ab dort aber mit b. Im Gegensatz zu Aurelian erfolgt damit die Diskussion der Modi in Bezug auf ein theoretisches Tonsystem. Diesem Anliegen dienen auch die Schaubilder in Hucbalds Traktat, die die zunächst an Choralbeispielen nur hörend verdeutlichten Intervallgrößen graphisch veranschaulichen und zuletzt am Beispiel der Saiten einer cithara sex chordarum erklingenden Ton und graphische Darstellung miteinander in Bezug setzen. Die Sphäre von musicus und cantor wird damit gegeneinander geöffnet. Ganz offensichtlich bildete St. Amand im späten 9. und frühen 10. Jahrhundert eines jener Zentren innerhalb des Karolingerreiches, in denen in einer anregenden intellektuellen Atmosphäre über Fragen der Musiktheorie und der Notation von Musik nachgedacht und geschrieben wurde. Da die älteste erhaltene Abschrift der vollständigen Musica enchiriadis aus dem 9./10. Jahrhundert (F-VAL Ms. 337) in St. Amand hergestellt wurde, war Hucbald, der auch selbst komponierte, mit ihrer Lehre sicher vertraut.
Quellen
Musica Enchiriadis: Aufzeichnug der Sequenz Rex celi domine als variables Quartorganum: D-BAs Varia 1 <https://zendsbb.digitale-sammlungen.de/db/0000/sbb00000078/images/index.html?id=00000078&fip=217.85.105.191&no=1&seite=115&signatur=Msc.Var.1>
Editionen
Hoger von Werden (?): Scholica enchiriadis
Anonymus: Alia musica
Anonymus: Commemoratio brevis
Aurelianus Reomensis: Musica disciplina
Audio/Video
Musica Enchiriadis: Sequenz Rex celi domine als variables Quartorganum
Bibliographie
Quellentexte
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Gombosi, Otto Johannes, Tonarten und Stimmungen in der antiken Musik, Kopenhagen 1939.
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