In dieser Darstellung wird im engeren Sinne von der solchermaßen zeitlich eingegrenzten Epoche Mittelalter und hier wiederum hauptsächlich nur von den Vorgängen innerhalb der europäischen Musikkultur gehandelt – was vergleichende Blicke über diesen Tellerrand hinaus nicht ausschließt, ja sogar notwendig macht. Dies setzt nun wiederum voraus, dass es so etwas wie eine »europäische« Musikkultur gibt. Dass die europäische Musik eine weit reichende Tradition besitzt, deren Wurzeln im Mittelalter entscheidend geprägt wurden, scheint unbestritten. Doch die Frage nach dem Wie, Wann und Wo dieses Prozesses lässt sich nicht leicht beantworten. Denn was heißt »europäisch« im Bereich der Musik?
Als Kennzeichen europäischer Identität wurde zum einen von dem französischen Historiker Rémi Brague die Haltung von Aneignung, Überlieferung und Weitergabe im Bezug auf die Antike angeführt. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus bezeichnete andererseits den Zug zur Rationalisierung als ein konstitutives Merkmal europäischer Musik und Musikgeschichte. Beides lässt sich in der Musikgeschichte des Mittelalters durchgängig wiederfinden, etwa in der Übernahme und Adaption antiker Musiktheorie und im Prozess der modifizierenden Rezeption des römischen liturgischen Gesangs, der cantilena romana. Beides führt zur Entwicklung einer eigentlichen Musiktheorie im Sinne von Denken über Musik, zur Entwicklung einer Musiknotation, die in eine spannungsvolle Wechselwirkung zur Komposition tritt, und damit verbunden zum Entstehen der komponierten Mehrstimmigkeit. Während musiktheoretisches Denken im Zuge der Aneignung antiker Musiktheorie die Kulturen der beiden anderen Schriftreligionen Judentum und Islam ebenso auszeichnet, begründet die musikalische Notation jenseits theoretischer Erörterungen eine eigene Identität der europäisch-christlichen, lateinischen Musikkultur gegenüber der zeitgleichen arabisch-islamischen, jüdischen oder griechisch-byzantinischen: Das Vertrauen in die Macht der Schrift steht dem Vertrauen in die mündliche Tradition gegenüber.
Vieles in der Darstellung wird trotz allem Bemühen um Klarheit und Klärung offen und vage bleiben müssen. Dem Leser wird also zugemutet, eher mit vielleicht teilweise verunsichernden, ungelösten Fragen konfrontiert, als mit vorschnellen Patentrezepten in einer falschen Sicherheit gewiegt zu werden. Jeder, der sich mit der Epoche des Mittelalters näher beschäftigt, wird sich auch ihren widersprüchlichen und antagonistischen Kräften stellen und sie aushalten müssen. Letztlich macht dies aber gerade die Faszination dieser Epoche aus.
Da es sich hier um ein »kleines« Handbuch der Musik des Mittelalters handelt, kann dieses sich nur mit ausgewählten Phänomenen beschäftigen. Dies wird zunächst und vor allem die monastische Kultur des frühen Mittelalters sein. Es geht also darum, wie die christliche Liturgie entsteht, welche Rolle musikalische Ausdrucksformen hierbei spielen, wie das älteste Gesangsrepertoire, der sogenannte »Gregorianische Choral«, sich herausbildet, welche Gattungen er hervorbringt, um das Verhältnis von Text und Musik, um die Rezeption römischer Vorbilder und die Erweiterungen des Repertoires in Dichtung und Musik, um die Entstehung musikalischer Notation und die Entstehung theoretischer Reflexion über Musik in der Auseinandersetzung mit dem Erbe antiker Musiktheorie, um die ersten Formen von Mehrstimmigkeit sowie um die handschriftliche Überlieferung. Die Fokussierung auf diese Phänomene hängt zunächst damit zusammen, dass sie ganz unmittelbar die spätere Musikgeschichte mitgeprägt haben. Dann aber auch damit, dass andere Ausschnitte mittelalterlicher Musikkultur, anders als die liturgische Musik, den Weg in die Schriftlichkeit nicht oder nur teilweise oder nur sehr spät gefunden haben und sich deshalb der musikwissenschaftlichen Betrachtung stärker verschließen: genannt seien hier etwa volkssprachliche Dichtung, Epenvortrag, Instrumentalmusik oder weltlich-höfische Musik. Dass diese existent waren, daran besteht kein Zweifel, und deshalb sollen und müssen sie ebenso zur Sprache kommen. Zwangsweise entsteht dadurch eine gewisse Schieflage in der Darstellung, die nur bedingt der anzunehmenden musikalischen Realität des Mittelalters, dafür dem heute zugänglichen Quellenbefund entspricht. Aber auch innerhalb der den Quellen nach dominierenden liturgischen Musik selbst ergeben sich durch die Überlieferungslage Ungleichgewichte: So ist etwa von Hildegard von Bingen und Hermannus Contractus ein umfangreiches Œuvre überliefert, während die Werke anderer Komponisten und Komponistinnen des 11. und 12. Jahrhunderts verloren oder noch nicht wiederentdeckt sind. Die Überlieferung liturgischer Musik des Mittelalters aus Frankreich ist breit dokumentiert, während aus Spanien, Italien und England vergleichsweise wenig, aus Deutschland beinahe nichts erhalten ist. Für die volksprachliche Liedkunst sind bei den Trouvères ungleich viel mehr musikalische Handschriften erhalten als bei den Troubadours und den Minnesängern.
Bibliographie
Liturgische Bücher
Dostal, Christian (Hrsg.), Graduale Novum. Editio magis critica iuxta SC 117. De dominicis et festis, Graduale Romanum seu Graduale Sanctae Romanae Ecclesiae Pauli PP. VI cura recognitum, ad exemplar ordinis cantus missae dispositum, luce codicum antiquiorum restitutum nutu Sancti Oecumenici Concilii Vaticani II, neumis laudunensibus et sangallensibus ornatum, Regensburg 2011.
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Liber Antiphonarius pro diurnis horis I: De tempore [LA], Solesmes 2005.
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Liber Hymnarius cum invitatoriis et aliquibus responsoriis [LH], Solesmes u.a. 1983.
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Offertoriale triplex cum versiculis [OT], Solesmes 1985.
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Quellentexte und Editionen
Analecta Hymnica Medii Aevi [AH], Leipzig 1886-1922.
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Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis [CC CM], Turnhout 1994ff.
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Corpus Monodicum. Die einstimmige Musik des lateinischen Mittelalters. Gattungen – Werkbestände – Kontexte, Basel 2014ff.
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Corpus Mensurabilis Musicae [CMM], [Rom] 1947/1997ff.
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Corpus of Early Keyboard Music [CEKM], [Rom].
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Coussemaker, Edmond de (Hrsg.), Scriptorum de musica medii aevi novam seriam a Gerbertinam alteram (CS), Paros 1864-1876.
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Corpus Scriptorum de Musica [CSM], [Rom] 1950ff.
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Gerbert, Martin (Hrsg.), Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum (GS), 1784.
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Migne, Jacques-Paul (Hrsg.), Patrologia cursus completus, Series Latina [PL], Paris 1844-1864.
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Monumenta Monodica Medii Aevi [MMMA], 1956ff. Kassel.
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Monumenta Monodica Medii Aevi. Subsidia, Kassel 1995ff.
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Musical Studies and Documents [MSD], [Rom] 1951ff.
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Paléographie musicale: les principaux manuscrits de chant grégorien, ambrosien, mozarabe, gallican, publiés en fac-similés phototypiques sous la direction de Dom André Mocquereau, prieur de Solesmes [PM], Solesmes 1889ff.
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Polyphponic Music of the Fourteeth Century (PMFC], Monaco 1956-1991.
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Überblickswerke
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Tuchman, Barbara W., Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jh.
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Huizinga, Johan, Der Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden.
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Coussemaker, Edmond de, Histoire de l’harmonie au Moyen Age.
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Page, Christopher, The Christian West and Its Singers. The First Thousand Years.
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Hiley, David, Western plainchant. A handbook.
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Zaminer, Frieder und u.a. (Hrsg.), Geschichte der Musiktheorie.
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