Systema teleion
Wie Boethius berichtet, fügt der Pythagoras-Schüler Hippasos von Metapont in der ersten Hälfte oder Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. zur Tetraktys die Duodezim (Oktav+Quinte) und Doppeloktav (Oktav+Quint+Quart), Philolaos von Kroton in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. die Teilung der Quinte in Quarte+Ganzton (9:8) und des Ganztons in kleinen (Limma oder pythagoräischer Halbton = 256:243) und großen Halbton (Apotome = 2187:2048) hinzu. Archytas von Tarent (frühes 4. Jahrhundert v. Chr.) wendet die Zerlegung in arithmetisches und harmonisches Mittel auch auf Quinte und Quarte an und erhält damit für die Quinte große Terz (5:4) und kleine Terz (6:5) und für die Quarte verminderte kleine Terz (7:6) und den übermäßigen Ganzton (8:7), woraus er das diatonische, enharmonische und chromatische Tongeschlecht der antiken Musiktheorie aufbaut. Der weitere Ausbau erfolgt durch Vertreter der hellenistischen Musiktheorie wie Eratosthenes , Didymos und Ptolemaios .
Bei Homer taucht der Begriff der harmonia ursprünglich im Kontext des Schiffsbaus auf und meint das Zusammenfügen der zunächst auseinanderstrebenden Planken. Wichtige Vertreter der spätantiken griechischen Musiktheorie sind Ptolemaios (nachgewiesen 128–141 n. Chr.) und dessen Kommentator Porpyhrios (um 234–305), Nikomachos von Gerasa (wohl 2. Jahrhundert n. Chr.), Gaudentios (wohl 3. Jahrhundert n. Chr.), Alypios (vor 240 n. Chr.) und Aristides Quintilianus (4. Jahrhundert n. Chr.).
Die zweiteiligen Namen innerhalb des systema teleion beziehen sich im zweiten Teil in der Form eines Genitiv Plurals auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse von Tönen, im ersten Teil auf die Position innerhalb dieser Klasse, z.B. parhypate meson = »Neben-Höchster (Ton innerhalb) der Mittleren (Töne)«. Theoretisch kann das gesamte systema teleion der Reihe nach auf die 12 Halbtonschritte der Oktav transponiert werden, denen Aristoxenos noch eine 13. Reihe im Oktavabstand zum Ausgangspunkt hinzufügt und die später auf 15 erweitert wurden. In absteigender Reihenfolge entstehen damit nach Kleonides (2. Jahrhundert n. Chr.), der die Lehre des Aristoxenos zusammenfasst, die folgenden tonoi oder tropoi oder Transpositionsskalen mit ihrer jeweiligen Mese, die wiederum mit Stammesnamen benannt werden:
tonoi (Transpositionsskalen)
Mese | |
---|---|
Hypermixolydisch oder Hyperphrygisch | e' |
Hohes Mixolydisch oder Hyperiastisch | dis' |
Tiefes Mixolydisch oder Hyperdorisch | d' |
Hohes Lydisch | cis' |
Tiefes Lydisch oder Aiolisch | c' |
Hohes Phrygisch | h |
Tiefes Phrygisch oder Iastisch | ais |
Dorisch | a |
Hohes Hypolydisch | gis |
Tiefes Hypolydisch oder Hypoaiolisch | g |
Hohes Hypophrygisch | fis |
Tiefes Hypophrygisch oder Hypoiastisch | f |
Hypodorisch | e |
Im praktischen Gebrauch wurden diese Transpositionen auf einen Oktavausschnitt eingeschränkt. Nach Ptolemäus bildet die dorische Oktav (e'–e), den zentralen Ausgangspunkt, auf den die anderen Oktavgattungen bezogen werden. Platon und Aristoteles sprechen dem Dorischen ebenfalls hohe Wertschätzung zu. Dadurch entstehen – modern gesprochen – bei Ptolemaios 6 Transpositionen der e-Oktav, die in unserer Notation entsprechend viele Vorzeichen erfordern würden (so etwa 1 Kreuz für Hypodorisch, 4 Kreuze für Lydisch, 1 b-Vorzeichen für Mixolydisch). Nach Alypios und Aristoxenos bildet dagegen Hypolydisch die zentrale Bezugsoktav. Das Dorische würde hier dann 5 b-Vorzeichen erhalten.
Von den beiden altgriechischen Notenschriften, die vor allem Alypios überliefert, ist die Instrumentalnotenschrift die ältere (6. Jahrhundert v. Chr.) und vermutlich aus dem altdorischen Alphabet entstanden, die Vokalnotenschrift jünger (5. Jahrhundert v. Chr.) und aus dem ionischen Alphabet abgeleitet. In der Instrumentalnotenschrift findet sich das auffällige Prinzip der Drehung und Spiegelung von Buchstaben, um die pyknoi wiederzugeben, in der Vokalnotation das Prinzip der Modifikation und Drehung von Buchstaben, um den Umfang nach oben und unten hin zu erweitern, das im Mittelalter in der sogenannten Dasia-Notation aufgegriffen wird.
Boethius
Entgegen Ptolemaios ergänzt Boethius einen 8. »modus« als hypermixoldyisch , der aber eine Oktavtransposition des hypodorischen Modus darstellt. Bei der Besprechung der Intervallgattungen führt Boethius die beiden Buchstabenreihen A–O (14 Töne von hypate hypaton bis nete hyperboleion) und A–P (15 Töne von nete hyperboleion bis proslambanomenos) ein. Damit benennt er drei Gattungen von Quarten, vier Gattungen von Quinten und sieben Gattungen von Oktaven (O–G, N–F, M–E, L–D, K–C, I–B, H–A, beginnend von der Oktav nete hyperboleion–mese bis zu paramese–hypate hypaton). Vom intensiven Bemühen um Aneignung der antiken Musiktheorie über Boethius zeugen die zahlreichen im 9. Jahrhundert einsetzenden Glossen zur De Institutione musica , wie z.B. eine Abschrift aus Corbie mit Glossen von einer Hand aus dem Umkreis von Johannes Scotus Eriugena (F-Pn lat. 13908). Abt Wala von Corbie hatte um 820 eine Kopie der Institutio musica von Boethius aus Italien mitgebracht. Von den antiken Genera übernimmt das Mittelalter nur das diatonische Genus.
Quellen
Eröffnende Miniatur zur Sammlung von Organa der Notre Dame-Schule im Codex Florenz (I-Fl Cod. Plut. 29.1 <http://mss.bmlonline.it/s.aspx?Id=AWOHy_N-I1A4r7GxMB57&c=Antiphonarium#/book>)
Psalterillustration aus dem frühen 12. Jahrhundert (GB-Cjc [Cambridge, St. John’s College], Ms. B 18, f. 1):
Editionen
Orestes-Fragment: Edition Pöhlmann/West 2001, S. 13
Seikilos-Lied: Edition Pöhlmann/West 2001, S. 55
Audio/Video
Seikilos-Lied:
Bibliographie
Quellentexte
Barbera, André (Hrsg.), Euklid: Section canonis (Greek and Latin music theory), 1991.
@book{Barbera.1991b, year = {1991}, title = {Euklid: Section canonis}, keywords = {Quellentexte;Tonsystem}, series = {Greek and Latin music theory}, editor = {Barbera, Andr{\'e}} }
Fensterbusch, Curt (Hrsg.), Vitruvius: De architectura libri 10, 21976.
@book{Fensterbusch.1976, year = {1976}, title = {Vitruvius: De architectura libri 10}, keywords = {Quellentexte;Tonsystem}, edition = {2}, editor = {Fensterbusch, Curt} }
Hanssens, Jean Michel (Hrsg.), Amalarii episcopi Opera liturgica omnia, 1948-1950.
@book{Hanssens.19481950, year = {1948-1950}, title = {Amalarii episcopi Opera liturgica omnia}, keywords = {Quellentexte;Tonsystem}, editor = {Hanssens, Jean Michel} }
Mathiesen, Thomas (Hrsg.), On Music, in three books (Peri mousikes), 1983.
@book{Mathiesen.1983, year = {1983}, title = {On Music, in three books (Peri mousikes)}, keywords = {Quellentexte;Tonsystem}, editor = {Mathiesen, Thomas} }
Solomon, Jon (Hrsg.), Cleonides: Isayoyi Armoniki: Critical edition, translation and commentary, 1980.
@book{Solomon.1980b, year = {1980}, title = {Cleonides: Isayoyi Armoniki: Critical edition, translation and commentary}, keywords = {Quellentexte;Tonsystem}, editor = {Solomon, Jon} }
Westphal, Rudolph (Hrsg.), Plutarchus: Über die Musik, 1865.
@book{Westphal.1865b, year = {1865}, title = {Plutarchus: {\"U}ber die Musik}, keywords = {Quellentexte;Tonsystem}, editor = {Westphal, Rudolph} }
——— (Hrsg.), Aristoxenus von Tarent: Melik und Rhythmik des Classischen Hellenenthums, 1883.
@book{Westphal.1883b, year = {1883}, title = {Aristoxenus von Tarent: Melik und Rhythmik des Classischen Hellenenthums}, keywords = {Quellentexte;Tonsystem}, editor = {Westphal, Rudolph} }
Winnington-Ingram, Reginald Pepys (Hrsg.), Aristides Quintilianus: De musica libri III, 1963.
@book{WinningtonIngram.1963b, year = {1963}, title = {Aristides Quintilianus: De musica libri III}, keywords = {Quellentexte;Tonsystem}, editor = {Winnington-Ingram, Reginald Pepys} }
Literatur
Hagel, Stefan, Ancient Greek music: A new technical history, 2010.
@book{AGmHagelb, author = {Hagel, Stefan}, year = {2010}, title = {Ancient Greek music: A new technical history}, keywords = {Literatur;Tonsystem} }
West, Martin L., Ancient Greek Music, 1994.
@book{AGMWestb, author = {West, Martin L.}, year = {1994}, title = {Ancient Greek Music}, keywords = {Literatur;Tonsystem} }
Bower, Calvin M., „The Transmission of Ancient Music Theory into the Middle Ages“ in: Thomas Christensen (Hrsg.), The Cambridge History of Western Music Theory , 2002, S. 136–167.
@incollection{Bower.2002, author = {Bower, Calvin M.}, title = {The Transmission of Ancient Music Theory into the Middle Ages}, keywords = {Literatur;Tonsystem}, pages = {136--167}, editor = {Christensen, Thomas}, booktitle = {The Cambridge History of Western Music Theory}, year = {2002} }
Pöhlmann, Egert, Denkmäler altgriechischer Musik: Sammlung, Übertragung und Erläuterung aller Fragmente und Fälschungen, 1970.
@book{DaMPohlmann, author = {P{\"o}hlmann, Egert}, year = {1970}, title = {Denkm{\"a}ler altgriechischer Musik: Sammlung, {\"U}bertragung und Erl{\"a}uterung aller Fragmente und F{\"a}lschungen}, keywords = {Literatur;Tonsystem} }
Pöhlmann, Egert und Martin L. West, Documents of Ancient Greek Music, 2001.
@book{DoAGMPohlmann&Westb, author = {P{\"o}hlmann, Egert and West, Martin L.}, year = {2001}, title = {Documents of Ancient Greek Music}, keywords = {Literatur;Tonsystem} }
Bellermann, Friedrich, Die Tonleitern und Musiknoten der Griechen, 1847.
@book{DTuMdGBellermannb, author = {Bellermann, Friedrich}, year = {1847}, title = {Die Tonleitern und Musiknoten der Griechen}, keywords = {Literatur;Tonsystem} }
Huglo, Michel, La réception de Calcidius et de Commentarii de Macrobe à l’époque carolingienne, 1990, S. 3–20.
@article{Huglo.1990, author = {Huglo, Michel}, year = {1990}, title = {La r{\'e}ception de Calcidius et de Commentarii de Macrobe {\`a} l'{\'e}poque carolingienne}, keywords = {Literatur;Tonsystem}, pages = {3--20}, volume = {44} }
Riethmüller, Albrecht, „Zeichenkonzeption in der Musik der griechischen und römischen Antike“ in: Roland Posner u. a. (Hrsg.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichenrhetorischen Grundlagen von Natur und Kultur Erster Bd., 1997, S. 893–899.
@incollection{Riethmuller.1997b, author = {Riethm{\"u}ller, Albrecht}, title = {Zeichenkonzeption in der Musik der griechischen und r{\"o}mischen Antike}, keywords = {Literatur;Tonsystem}, pages = {893--899}, volume = {1}, editor = {Posner, Roland and Robering, Klaus and Sebeok, Thomas}, booktitle = {Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichenrhetorischen Grundlagen von Natur und Kultur}, year = {1997} }
Schlötterer, Reinhold, Das Seikilos-Epitaph mit den Erfahrungen der Musikethnologie betrachtet, 1984/1985, S. 249–263.
@article{Schlotterer.19841985b, author = {Schl{\"o}tterer, Reinhold}, year = {1984/1985}, title = {Das Seikilos-Epitaph mit den Erfahrungen der Musikethnologie betrachtet}, keywords = {Literatur;Tonsystem}, pages = {249--263}, volume = {39/40} }
———, Symphonia: Zur Dimension des Zusammenklangs in der Musik der griechischen Antike, 2013, S. 85–104.
@article{Schlotterer.2013, author = {Schl{\"o}tterer, Reinhold}, year = {2013}, title = {Symphonia: Zur Dimension des Zusammenklangs in der Musik der griechischen Antike}, keywords = {Literatur;Tonsystem}, pages = {85--104}, volume = {70} }
Solomon, Jon, Towards a history of Tonoi, 1984, S. 242–251.
@article{Solomon.1984, author = {Solomon, Jon}, year = {1984}, title = {Towards a history of Tonoi}, keywords = {Literatur;Tonsystem}, pages = {242--251}, volume = {3} }
Gombosi, Otto Johannes, Tonarten und Stimmungen in der antiken Musik, 1939.
@book{TuSidaMGombosib, author = {Gombosi, Otto Johannes}, year = {1939}, title = {Tonarten und Stimmungen in der antiken Musik}, keywords = {Literatur;Tonsystem} }
Zaminer, Frieder, „Griechische Musikaufzeichnungen“ in: Thrasybulos Georgiades (Hrsg.), Musikalische Edition im Wandel des historischen Bewusstseins , 1971, S. 9–27.
@incollection{Zaminer.1971b, author = {Zaminer, Frieder}, title = {Griechische Musikaufzeichnungen}, keywords = {Literatur;Tonsystem}, pages = {9--27}, editor = {Georgiades, Thrasybulos}, booktitle = {Musikalische Edition im Wandel des historischen Bewusstseins}, year = {1971} }